Impulse für eine inklusive Seelsorge

Drinnen oder draußen – eine Frage der Perspektive

„... und raus bist du!“ – vielleicht kennen Sie diese Zeile noch aus Ihrer Kindheit? Für viele Menschen beschreibt sie die ganz reale Lebenswirklichkeit: Sie sind anders als die Mehrheit, die die Norm vorgibt, und müssen deshalb häufig unter Bedingungen leben, die ihren Bedürfnissen nicht entsprechen. „... und raus bist du!“ – die Angst vor dieser Erfahrung prägt auch das Leben vieler Menschen, die sich selbst als völlig „normal“ betrachten. Lieber nicht auffallen, Fehler vermeiden, Störendes draußen lassen – dieses Bemühen kann die einengende Konsequenz sein.
Kann Inklusion das Draußen in ein Drinnen verwandeln? Und was kann Seelsorge dazu beitragen? Diesen Fragen widmete sich ein Fachtag des Zentrums für Seelsorge in Hannover im Mai 2019. Professorin Dr. Hanna
Löhmannsröben vom Fachbereich Inklusionspädagogik der Universität Potsdam führte mit einem Impulsreferat in die Thematik ein; Petra Eickhoff-Brummer, landeskirchliche Beauftragte für Systemische Seelsorge, betrachtete die notwendigen Faktoren für eine gelingende inklusive Seelsorge aus systemischer Sicht. Der Fachtag bot darüber hinaus Raum für den kreativen Austausch und ermöglichte konkrete Erfahrungen des Drinnen und Draußen jenseit der rein kognitiven Wahrnehmung – (Nicht-)hören, (Nicht-)sehen und (Anders-)wahrnehmen.  

Im Jahr 2009 trat in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft; dennoch sei die Umsetzung dieses Gesetzes nach wie vor konfliktreich, oftmals unbequem, ein „vielgestaltiger, fransiger Prozess“, analysierte Löhmannsröben. Die moderne Gesellschaft bestehe aus immer mehr Partikularsystemen mit immer weniger Überschneidungen zwischen den Gruppen: „Eine solche Gesellschaft tut sich schwer mit der Inklusion.“ Große Bedeutung misst Löhmannsröben den Kontextfaktoren von Behinderung bei: „Als Seelsorgerinnen und Seelsorger gehören wir zu diesen Faktoren – wir können behindern oder ‚enthindern‘.“ Die Referentin erinnerte an den kirchlichen Kernauftrag, das Evangelium in alle Welt und damit zu allen Menschen zu tragen; folglich auch zu denen, die aufgrund ihre Anders-Seins anders als die Mehrheit angesprochen werden müssen. Orientierung biete dabei immer wieder Jesu‘ Frage „Was willst du, dass ich dir tun soll?“.

In einem weiteren Impuls während des Fachtages erklärte Petra Eickhoff-Brummer, die verschiedenen Seelsorgelehren seien keine Vorreiterinnen in der Entwicklung von Praxiskonzepten für die Inklusion. Als Systemikerin benannte sie Leitgedanken zur Inklusion, die die Gangbarkeit, die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten und die freie Entscheidung von Betroffenen sowie die Wahrnehmung des Kontextes und eine klare Ressourcen- und Kompetenzorientierung in den Fokus rücken. „Wir müssen die Sprache unseres Gegenübers lernen“, so Eickhoff-Brummer. „Das ist eine große Herausforderung für eine Kirche des Wortes.“

Dieses Werkstattheft, das vierte aus dem Zentrum für Seelsorge in Hannover, gibt die beiden Impulsvorträge des Fachtages wieder. Darüber hinaus vermitteln mehrere Aufsätze aus verschiedenen seelsorglichen Arbeitsfeldern ganz konkrete Methoden und Erfahrungen aus der Arbeit mit Menschen, die besondere Anforderungen an die Seelsorge stellen.

Wir danken Prof. Dr. Hanna Löhmannsröben, Petra Eickhoff-Brummer und allen Autor*innen sehr herzlich für ihre Beiträge.

Die Autor*innen

Prof. Dr. Hanna Löhmannsröben – Theologin und Religionspädagogin, Professorin für Sonderpädagogik am Fachbereich Inklusionspädagogik an der Universität Potsdam
Silke Rosenwald-Job – Heilpraktikerin für Psychotherapie, Diakonin, Seelsorgerin im Evangelischen Taubblindenwerk in Hannover-Kirchrode
Petra Ziehe – Diakonin, Seelsorgerin im Evangelischen Taubblindenwerk in Hannover-Kirchrode
Cornelia Kühne – Pastorin, landeskirchliche Beauftragte für Schwerhörigenseelsorge
Anita Christians-Albrecht – Pastorin, landeskirchliche Beauftragte für Altenseelsorge
Christiane Neukirch – Pastorin, landeskirchliche Beauftragte für Gebärdensprachliche Seelsorge
Petra Eickhoff-Brummer – Pastorin, landeskirchliche Beauftragte für
Systemische Seelsorge, Supervisorin, Systemische Beraterin
Andreas Chrzanowski – Pastor, landeskirchlicher Beauftragter für Blinden- und Sehbehindertenseelsorge

... und raus bist du! Impulse für eine inklusive Seelsorge

Prof. Dr. Hanna Löhmannsröben1

Drinnen Sein und draußen Sein ist eine Perspektivenfrage, eine Konstruktion, und liegt im Auge des Betrachters oder der Betrachterin. Menschen leben mit einer Konstruktion von „Ich“ oder „Wir“ einerseits und „Die“ andererseits, einer Konstruktion vom Anders-sein. „Inklusion aus verschiedenen Perspektiven in der Seelsorge“ ist ein Thema, das mich persönlich und in meiner beruflichen Tätigkeit intensiv beschäftigt. Ja, viel wird getan dafür, dass alle dazugehören, teilhaben können. Viel ist begonnen, viel gibt es schon sehr lange, vieles ist gut. Anderes nicht.

Weiterungen und Verengungen von Inklusion

Eine meiner Kolleginnen in Potsdam hat gerade ihre Doktorarbeit abgeschlossen mit dem Titel „Deutschsein und Anderssein“‚ „Germanness and Otherness“. Sie ist US-Amerikanerin. Wie konstruieren wir in Deutschland das Dabeisein und das Anderssein, das Drinnen und Draußen? Inklusion und Ausgrenzung? Deutschsein konstruiert sich im Bewusstsein vieler Menschen nach wie vor durch Blut. Also durch Geburt in eine Familie mit deutscher Herkunftskultur, nicht durch „Person lebt in Deutschland“ oder „Person befindet sich innerhalb unserer Grenzen“ oder auch durch deutsche Staatsbürgerschaft. Ich und die, Inklusion und Anderssein, haben jenseits der nationalen Frage viele Ebenen:

Die persönliche Ebene: Unser eigenes Leben. Wen treffe ich? Mit wem lebe ich zusammen? Wer wohnt in meiner Nachbarschaft? Wer gehört zu meinen Kolleginnen und Kollegen, oder wen treffe ich beim Einkaufen? Zu wem habe ich überhaupt keine Verbindung?

Des Weiteren: Die Ebene des sozialen Nahraums, zum Beispiel die Kirchengemeinde, die Kirche überhaupt, die Diakonie. Wer ist da, wer bestimmt mit, wer steht am Rande, ist übersehen oder gehört ausdrücklich nicht dazu? Ist dauerhaft Hilfeempfängerin? Muss sich bewähren? Sich erst massiv ändern, ehe Inklusion möglich wäre? Und schließlich: Die Ebene der Gesellschaft als Ganzes, unser Land mit den Institutionen, wie zum Beispiel der Schule oder den Kirchen.

Im Folgenden wird dieses „Wir“ und „Die“ unter dem Gesichtspunkt von Abgrenzung und Partikulargesellschaften in verschiedenen kirchlich-diakonischen Handlungsfeldern aufgezeigt. Inklusion wird möglich, wenn diese Aus- und Abgrenzungsprozesse auf allen genannten Ebenen überwunden werden.

In Deutschland wird Inklusion, Teilhabe aller, die da sind, sehr oft dem ohnehin sehr überdehnten Bildungssystem als Auftrag aufgetragen – um nicht zu sagen: an Kindergärten und Schulen delegiert. Damit gerät aus dem Blick, dass Inklusion alle Menschen und alle Lebensbereiche betrifft. Das wiederum wird zu einem unbewussten Verhinderungsmechanismus für Inklusion auch in der Kirche.

Inklusion nicht allein im Bildungsbereich in Deutschland

Inklusion wird in Deutschland oft verstanden – eng geführt – als gemeinsame Bildung vor allem im Elementar- und Primarbereich. „Alle Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam, und wir fangen damit schon im Kindergarten an“ (allerdings: „Wir hören dann, wenn sie in die Pubertät kommen, damit auf, bis zur 6. Klasse geht Inklusion meistens ganz gut, aber dann ist es ja auch ein schwieriges Alter.“). Inklusion ausschließlich der Schule aufzutragen, ist zu kurz gegriffen. Nach dem Motto: „Wir haben jetzt inklusive Schule mit allen Pros und Kontras und allen Herausforderungen. Das ist doch klasse.“

Auch kirchliche Bildung kann sich oft sehen lassen: Gemeinsamen Konfirmandenunterricht gibt es in manchen Kirchengemeinden schon lange, in Einrichtungen der Diakonie noch viel länger. Die kirchlichen Kinder-
tagesstätten nehmen fast alle Kinder auf. Ausschlussgründe sind z.B. eine schwere Behinderung oder fehlende Pflege- und Fördermöglichkeiten in einer spezifischen gesundheitlichen Situation. Auch kirchlich gesehen gibt es also im Bildungsbereich ermutigende Aufbrüche zur Inklusion. Vieles machen wir gut, und wir sind auch mit vielem schon auf gutem Weg in Kirche, Gemeinde und Diakonie.

Inklusion braucht Erfahrung miteinander, umfasst alle Lebensbereiche und benötigt Ressourcen

Als Gesellschaft und damit auch in der Kirche und als Einzelne haben wir, was Inklusion angeht, dennoch viele blinde Flecken. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland hat ein erhebliches Erfahrungsdefizit bei Begegnungen und Erfahrungen mit „Anderssein“ – anderem Aussehen, anderer Herkunftskultur, anderem Glauben, gänzlich anderen Lebenszusammenhängen, ja, auch ein erhebliches Erfahrungsdefizit in der alltäglichen Begegnung mit behinderten Menschen. Die Ursachen sind vielfältig. Im Ergebnis beeinflusst dieses Erfahrungsdefizit die Haltung vieler Menschen – nicht allein derer, die auf vermeintliche Schwäche und auf Fremdheit mit Hass und Ausgrenzung antworten. Wir sind gesellschaftlich mehrheitlich eben nicht offen dafür, dass zum Beispiel behinderte Menschen für ihre Arbeit reellen Lohn erhalten. Wir sehen Dinge nicht, die doch da sind: Wir sehen zum Beispiel nicht, was Inklusion in der Arbeitswelt bedeutet. Nämlich, das eigene Brot selbst zu verdienen und nicht gefühlt von Almosen von Menschen abhängig zu sein, denen es besser geht. Eine die Leistung behinderter Menschen würdigende Entlohnung könnte ein Weg heraus sein aus der strukturellen Diskriminierung durch dauerhaften Verbleib im Fördersystem.

Oder: Viele Menschen verneinen, dass alle ein Recht auf Teilhabe an Freizeitaktivitäten haben. Eine Ausbildung absolvieren können. Mit sehr guten Kursen sehr schnell Deutsch lernen können. (Wenn Seelsorge die Muttersprache der Kirche ist, wäre es umso nötiger, dass Christinnen und Christen sich hier massiv stark machen und für Inklusion durch gute Sprachförderung eintreten.) Dieses Nicht-Sehen führt dazu, dass zu viele Menschen zu lange im sozialen Fördersystem bleiben und sich eher als „Kostenfaktoren“ diskriminiert sehen, statt als Menschen, die gesellschaftlich in allen Belangen mitbestimmen.

Auch dieser Verbleib im Fördersystem hat Folgen. Wer sich in Deutschland im sozialen Fördersystem befindet, gerät unmittelbar in die Opferkonkurrenz mit anderen, die von den knapp bemessenen Unterstützungsmöglichkeiten ebenfalls ihren Teil beanspruchen: zugewanderte Menschen, geflüchtete Menschen, wirtschaftlich arme Menschen, behinderte Menschen oder Familien mit alleinerziehenden Müttern zum Beispiel. Sie alle wollen teilhaben. Dazugehören.

Dieses Fördersystem für Inklusion steht überall, immer wieder zur Debatte – also auch im Bereich der Schule, die doch eine Vorreiterrolle in der Inklusion einnehmen soll. Zum einen geht es um die Verteilung der Ressourcen. Häufig beklagen beispielsweise die Eltern von Kindern in Gymnasien die Klassengröße, fehlende individuelle Förderung und fehlende materielle Ressourcen und vergleichen: „In Förderschulen erhalten Kinder viel bessere Förderung, obwohl sie immer bedürftig bleiben werden. Was das kostet! Unsere Kinder, die später eine ganz andere Verantwortung übernehmen werden, fallen dagegen hinten herunter.“ Zum anderen wirkt ein Menschenbild, das mit einem sehr einseitigen Leistungsbegriff operiert. Nicht, was jemand braucht, um dazu zu gehören, „drinnen“ zu sein in unserer Gesellschaft, zählt. Sondern für diejenigen, die „Leistung“ angeblich nicht erbringen, scheint der gesellschaftliche Katzentisch der angemessene Ort. Ressourcen sollen nach dieser Haltung ausschließlich den Erfolgreichen, den wirtschaftlich oder national oder kulturell oder sprachlich Dazugehörigen dienen. Inklusion und Teilhabe wären dann kein Menschenrecht mehr, sondern sie verkämen zu etwas, das verdient sein will, zu gesellschaftlichem Luxus.

Diskriminierungsverbot im Grundgesetz

„Wir“, also die Perspektive, aus der heraus ich heute spreche, ist auch eine von Germanness und Otherness, also irgendwie dazu gehören und draußen sein, was auch immer das ist. Dieses dient zunächst als Brücke zur Verständigung über Ausgrenzungsmechanismen, die durch Inklusion zu überwinden sind.

Artikel 3 des Grundgesetzes unserer Bundesrepublik Deutschland, dessen Jubiläum gerade gefeiert wird, bezeichnet ein Gleichheitsprinzip. Gleichheitsprinzip im Grundgesetz heißt: Das ist die grundlegende Basis, so wie gleich eine der ersten Festsetzungen, eben Artikel 3, Absatz 3, bestimmt: Niemand darf wegen Geschlecht, Abstammung, Rasse, seiner Sprache, Heimat, Herkunft, Glaube, religiöser oder politischer Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Relativ neu ist die Ergänzung: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Unser Grundgesetz setzt Rechtsnormen, ist keine fakultative Haltung im Sinne einer lockeren Übereinstimmung. Das Diskriminierungsverbot behinderter Menschen darf also nicht eingeschränkt werden. Leider gibt es das im Alltag doch. Zwei Beispiele: Gemeinsame Schule für alle? Das hat Grenzen nach dem Motto: Inklusion gibt es, solange schulorganisatorische Gegebenheiten dem nicht entgegenstehen. Diese Bestimmung gibt es sinngemäß zu oft in den Schulgesetzen der Länder. In der Stadt ist noch manches möglich, aber auf dem Lande, wo die Wege weit (und teuer!) sind – müssen wir wirklich die Kosten dafür bezahlen? Oder liegt die Förderschule mit ihrem Heim nicht näher? Ein anderes Beispiel: Eine Familie mit schwerbehindertem Kind möchte die Unterstützung für den gemeinsamen Familienurlaub. Meinte der Landkreis: Das Kind ist doch so behindert, das braucht doch keinen Urlaub. Das bezahlen wir nicht. Die Eltern mussten vor Gericht gehen, um durchzusetzen, dass selbstverständlich der Kostenträger auch für den Urlaub des behinderten Kindes aufkommen muss. Weil Familienurlaub normal ist und dazugehört zum Teilhaben. Auf ganz verschiedenen Ebenen konstruieren sich also alltäglich „wir“ und „ihr“, „die anderen“ und „wir Zugehörigen“.

Partikulargesellschaften und Kirche

Erschwerend für den Blick auf das Ganze, also die Teilhabe aller, Inklusion, kommt hinzu, dass unsere Gesellschaft sehr stark in Bewegung ist und sehr viele Untersysteme, Subsysteme, hat. Es gibt sehr viele Partikulargesellschaften. „Wir“ im kirchlichen Milieu werden klassischerweise dem Subsystem der Traditionalisten zugeordnet, und auch ein bisschen dem der Bildungsbürger. Mit einer spezifischen Kultur. Andere Kulturen und Lebensweisen kommen in unserem „Wir“ eher selten vor – eine Verengung. Menschen, die gesellschaftlich zu denen gehören, die das Leben genießen wollen, die irgendwie sehr arm sind, die ganz viel reisen, die alternativ leben, Autonomie betonen – sie alle haben im kirchlichen „Wir“ kaum Teilhabechancen. In unserer Gesellschaft gibt es zunehmend weniger Überschneidungen der einzelnen Partikulargesellschaften, dagegen immer mehr Einzelinteressen. Wer jemals versucht hat, gemeinsame Interessen in einem Verein voranzubringen, weiß, wie schwer es ist, beispielsweise Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger für den Vorstand zu finden. Zeit, Kraft und Energie, meinetwegen auch Geld einzusetzen wird keineswegs selbstverständlich als Ehre angesehen. Überwiegen die eigenen Interessen gegenüber der Teilhabe aller zu oft?

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Neben fehlenden Begegnungen und Erfahrungen und neben einer Engführung von Inklusion auf den Bildungsbereich mit Kindertagesstätte und Schule hindert die Kontaktlosigkeit zwischen gesellschaftlichen Subsystemen die Teilhabe der Verschiedenen – auch in der Kirche. Eine Gesellschaft, die sich definiert durch verschiedene Untersysteme, einzelne, berührungsfrei nebeneinander existierende Communities, hat es schwer mit Inklusion. Inklusion wird Rückschritt, weil errungene Autonomie und individuelle Freiheiten die persönliche Identität von Menschen bilden. Und diese Identität wird bewahrt. Für die Teilhabe aller müssen alle in der Gesellschaft sich verantwortlich wissen – und das heißt: Die vielen „Wirs“ in ihren Partikulargesellschaften ohne Kontakt zu anderen müssten sich ändern.

Veränderung ist nötig und fordernd

Veränderung, Change, provoziert Widerstände. Darüber gibt es ganze Lehrbücher, wie Change-Management in Organisationen, vielleicht auch in der Kirche, funktionieren kann. Und meistens steht erst mal auf hundert Seiten: Veränderung funktioniert nicht. Menschen, Institutionen und Organisationen, Gesellschaften sind beharrungsmächtig. Veränderungen erfordern, hinaus aus der Komfortzone zu gehen, sie sind also unbequem. Konflikte und Auseinandersetzungen zum Beispiel um Ressourcen gehören zu diesen Veränderungsprozessen. Auch sie sind unbequem. Konflikte werden kirchlich gern vermieden. In Veränderungsprozessen lassen sich unterschiedliche Phasen beschreiben, die durchzuhalten sind: Wir Unterschiedlichen nähern uns einander an, wärmen uns an, warming up. Ganz nett sind wir zunächst zueinander. Aber dann, wenn es in Veränderungsprozessen konkret wird, wird es ungemütlich, stürmisch: Storming, dann geht´s darum, auszuhandeln, wer wieviel, wer nicht, wann, unter welchen Bedingungen und: wie teuer? Und erst nach langen Auseinandersetzungen, drei, vier Jahre, kommen bei Veränderungsprozessen neue Routinen in den Alltag: Gute Abläufe, veränderte Teilhabe und Mitwirkung zum Beispiel, und das neue „Wir“ fängt an zu leuchten. Gewiss: Der Weg der Veränderung zu einem veränderten „Wir“ ist mühsam. Auch das steht oft der Inklusion entgegen.

Der Inklusionsbegriff, mit dem ich in diesen Ausführungen arbeite, ist weit gefasst. Es geht um inklusive Kultur, um die Strukturen, um die Praktiken, es geht darum, alle im Blick zu haben, den Dialog anzuregen, auch zu sensibilisieren. Kurz, es ist eine umfassende große Aufgabe mit vielen einzelnen Bereichen, die adressiert werden müssen. Und es ist gleichzeitig ein wertvoller, guter Auftrag, der Veränderungen im „Wir“ erfordert, damit Inklusion gelingt.

An einem kirchlichen Handlungsfeld soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass eine ehrliche Bestandsaufnahme und konkrete Maßnahmen erforderlich sind und die Teilhabe aller Menschen in diesen konkreten Handlungsfeldern erweitert werden kann und muss.

Zu einer – auch kirchlich ehrlichen – Bestandsaufnahme gehören Mut und die Bereitschaft, liebgewordene, vertraute Denkmuster zu verändern. Also, Verunsicherung auszuhalten mit der Perspektive, inneren Reichtum und Wechselseitigkeit in der Begegnung zu erleben und zu erwarten. Einseitige Hilfsbereitschaft muss geweitet werden zu einer Bereitschaft, wechselseitige Begegnungen, Erfahrungen und gemeinsame Teilhabe zu gestalten. Dazu gehören Orte, an denen das Gemeinsame stattfinden kann, und Handlungen, die das Gemeinsame, das erneuerte „Wir“ inklusiv bezeichnen.

Dabei wird es zunächst unbequeme Einsichten geben, weil es sich um gemeinsam gestaltete und verantwortete Veränderungsprozesse handelt und nicht um fertige Rezepte, die ohne weiteres Umdenken eingesetzt werden und dann ein inklusives „Wir“ formen würden. Inklusion ist ein Prozess, vielgestaltig und fransig. Nur gemeinsam wird ein Blick aufs gesellschaftliche, aufs kirchliche oder seelsorgliche Ganze möglich.

Gemeinsam heißt: Expertinnen und Experten – „wir“ – gemeinsam mit den unterschiedlich Betroffenen. Auch sie sind Expertinnen und Experten, aber anders als „Wir“. Es gibt unterschiedliche Expertinnen und Experten: Solche für Theorien und Fragestellungen und Einsichten, es gibt Expertinnen und Experten in Prozessen und Kontakten und Strukturen, es gibt Lebenswelt-Expertinnen und -Experten – das sind die Betroffenen selbst. Und ihre Perspektive ist ebenso unverzichtbar wie die aller anderen.

Kirchliche Seelsorge – Auftrag und Strukturfragen

Was ist Seelsorge? Und was heißt das für Inklusion? Im ersten Petrusbrief lesen wir: „Alle eure Sorge werft auf ihn, Jesus, denn er sorgt für euch.“ Das ist eine Kurzform für Seelsorge. Und im Galaterbrief: „Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“. Da steht eher der Gedanke der Solidarität im Horizont des Vertrauens auf Jesus im Vordergrund, Solidarität insofern, als niemand alleine tragen soll, wenn es um Lasten geht. Kommen die Lebensfreude und Zuversicht oder auch die Gaben und Kompetenzen von ganz unterschiedlichen Menschen in den Blick? Oder geht es gleich um eine defizitorientierte Sichtweise auf das Leben, auf Lebenslagen? Um Menschen, denen „Wir“ helfen? Diese Frage ist wichtig, weil sie die Erwartungen auf Inklusion in der Seelsorge eröffnet oder begrenzt. Der biblische Befund wird für kirchliches Handeln in der Seelsorge konkretisiert z.B. im Seelsorgegeheimnisgesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Seelsorge im Sinne des Seelsorgegeheimnisgesetzes ist aus dem christlichen Glauben motivierte und im Bewusstsein der Gegenwart Gottes vollzogene Zuwendung. Sie gilt dem einzelnen Menschen, der Rat, Beistand und Trost in Lebens- und Glaubensfragen in Anspruch nimmt, unabhängig von dessen Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit. Seelsorge ist für diejenigen, die sie in Anspruch nehmen, unentgeltlich. Und Absatz 2 des Seelsorgegeheimnisgesetzes wird ausgeführt: Die förmliche Beichte gilt als Seelsorge im Sinne des Absatzes 1.

Damit grenzt sich dieses Verständnis von Seelsorge ab von psychosozialer Betreuung, beispielsweise im Gesundheitswesen mit ganz anderen Aufgaben für Verschwiegenheit und Dokumentation und Fallbesprechungen im Team. Selbstverständlich gibt es Beratung und Begleitung in sehr unterschiedlichen professionellen Kontexten in unserer Gesellschaft.

Kirchliche Seelsorge fußt auf einer Ausbildung und braucht eine Beauftragung mit einer öffentlichen Einführung. Seelsorge ist nach evangelischem Kirchenverständnis etwas, was einen öffentlichen Auftrag hat und aktenkundig gemacht wird. Für die kirchliche Seelsorge gibt es das Schweigegebot, die Schweigepflicht und das eng gefasste Seelsorgegeheimnis und das Beichtgeheimnis. Das heißt, Seelsorgerinnen und Seelsorger, förmlich beauftragt, haben ein Zeugnisverweigerungsrecht, das vor Gericht gilt. Damit geht die Schweigepflicht der Seelsorgerinnen und Seelsorger deutlich weiter als das, was sonst über Berufsgeheimnis oder berufliche Verschwiegenheit festgelegt ist.

Es ist nicht alles Seelsorge, was aus gutem christlichem Verständnis heraus geschieht. Seelsorge ist etwas, was wie ein Dreieck funktioniert, was zwei Menschen, eine Seelsorgerin/einen Seelsorger und eine Ratsuchende oder eine Seelsorgeperson betrifft und ein Drittes einbezieht. Seelsorge ist eine Dreiecksbeziehung – und immer ist der Dritte Gott. Seelsorge geschieht im Horizont des Gottesglaubens. Sie ist Kirchenhandeln auf Grund einer Ausbildung durch eine Beauftragung und mit Aktenkundigkeit.

Gefährdungen kirchlicher Seelsorge

Bereits an dieser Stelle seien Hinweise auf die Umstrittenheit der Seelsorge benannt. Seelsorge – der Begriff ist nicht geschützt – ist einerseits längst über das gesellschaftliche „Wir“ der Kirche hinausgewachsen, andererseits als professionell anspruchsvolles Angebot der Kirche inzwischen auch innerkirchlich umstritten. Es gibt sehr viele Angebote von spiritual care, so genannter Seelsorge, in unterschiedlichsten weltanschaulichen oder sozialen Kontexten, nicht allein im Bereich von Sekten oder Esoterik, und in unterschiedlichsten Zielstellungen und Sichten auf den Menschen. Oft sind diese Angebote von sehr zweifelhafter Qualität, sehr teuer und nicht immer einem Menschenbild verpflichtet, das von Würde, Achtung und Menschenliebe bestimmt ist.

Kirchliche Seelsorge ist dem Menschenbild des christlichen Glaubens und damit der Nächstenliebe verpflichtet und ist kostenlos für die Kundinnen und Kunden. Im kirchlichen „Wir“ wird jedoch gerade aus Kostengründen zunehmend gefragt: Können wir uns als Kirche diese speziellen Seelsorgen für unterschiedliche Handlungsfelder leisten, oder gehen sie gar zu Lasten der Gemeinden? Wer finanziert die Stellen für diejenigen, die kirchliche Seelsorge verantwortlich durchführen sollen? Wer finanziert die Ausbildungen und die Ausbilderinnen und Ausbilder? Die supervidierende Begleitung? Schon hier beginnen Auseinandersetzungen, die die Profes-
sionalität von Seelsorge und Seelsorgenden anfragen und die Bedarfe von Menschen in bestimmten Lebenssituationen nicht seelsorglich differenzieren. Ja, „Wir“ reden auch über Geld, wenn wir über inklusive Seelsorge sprechen, und damit über Interessensunterschiede und Verteilungsgerechtigkeit innerhalb kirchlicher Strukturen.

Seelsorge für wen (nicht)?

Was heißt kirchliche Seelsorge mit Beauftragung, Einführung und entsprechendem Vermerk über die Tätigkeit in den Akten nun für Menschen mit Behinderungen? In Gedanken gehe ich in eine Wohngruppe für Erwachsene mit geistiger Behinderung. Wir singen, wir beten. Führen wir Seelsorgegespräche hinter verschlossenen Türen? Mit Geheimnis? Muss denn die Stationsleitung alles wissen? Muss denn eine unbedarfte Mitarbeiterin im „Freiwilligen Jahr“ gerade jetzt aufräumen, wo wir hier doch zur Seelsorge sitzen? Oder ist das „nicht so schlimm“? Oder ein anderes Beispiel: Seelsorgende benötigen Dolmetscher – vielleicht für Gebärdensprache oder taktile Gebärden. Was bedeuten z.B. Seelsorge und Seelsorgegeheimnis in solchem Fall? Allein durch die Organisationsform der Lebenszusammenhänge vieler Menschen mit Behinderungen entstehen Risiken für seelsorgliches Handeln, die keineswegs nur dadurch weniger gravierend wären, weil es sich beispielsweise um demenziell erkrankte Menschen handelt oder um Menschen, die irgendwie anders kommunizieren als Sie oder ich. Kaum ist die Frage nach Seelsorge für Menschen mit Behinderungen gestellt, werden schon zentrale Fragen kirchlicher Seelsorge berührt, wie z.B. die seelsorgliche Verschwiegenheit. Seelsorge soll ermöglicht werden für alle – und wenn es auch mit Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern ist, und ist gleichzeitig bedroht, weil der unbedingte Vertrauensraum, den Menschen brauchen, um sich vor Gott zu öffnen, in Gefahr gerät.

Hilfen zur Seelsorge: ausgewählte Texte

Nach diesen einführenden Gedanken zu Spezifika von kirchlicher Seelsorge mit Menschen in behindernden Lebenssituationen geht es im Folgenden konkret um seelsorglich-kirchliche Angebote für Menschen in besonderen Lebenssituationen. Inklusion, das erweiterte „Wir“, konkretisiert sich in konkreten kirchlichen Handlungsfeldern. „Wir“ Kirchenmenschen tragen dafür allein die Verantwortung. Überlegungen zu Gebeten im Evangelischen Gesangbuch, zur kirchlichen Agende für den Dienst an Kranken sowie zum Neuen Evangelischen Pastorale sollen das verdeutlichen.

Evangelisches Kirchengesangbuch: Gebete

Zunächst lenke ich die Aufmerksamkeit auf Gebete. Vorformulierte Gebetstexte ermutigen Christinnen und Christen zu eigener Glaubenspraxis durch vertrauensvolle Hinwendung zu Gott mit Worten, in denen sie ihre eigene Lebenssituation wiederfinden. In diesen Gebetstexten konstruiert sich also im weiteren Sinne ein christliches „Wir“ der Betenden.

Das Evangelische Gesangbuch führt Gebete unter Nummer 812 ff auf. Das Gesangbuch der Evangelischen Kirche will für alle Menschen hilfreiche Texte, Lieder und, in manchen Ausgaben, auch Bilder zur Verfügung stellen. Erst seit jüngerer Zeit gibt es ab Nummer 900 in den EKG-Gebeten die Rubrik „Zum Lebenskreis“ und darin Gebete für ganz unterschiedliche Situationen des Lebens. „Wir“ wissen, wie es Menschen gehen kann. Und wir wissen, dass Menschen in jeder Situation Trost zukommt und dass Dank und Freude Worte finden zu Gott: in Erwartung eines Kindes, nach der Geburt eines Kindes, zur Taufe, Gebet einer Patin, heranwachsend, Konfirmandenzeit, Geburtstag, Einsamkeit, Hochzeit, in kritischen Zeiten der Ehe, Arbeit und Beruf, Reisesegen, vor Prüfungen, für Angehörige unterwegs, in Not und Krankheit, auch morgens – abends, Gebet mit Kindern, für ein krankes Kind, im Alter und beim Sterben. Lebenslagen. Da verdichtet sich textlich kirchlich-seelsorgliche Erfahrung aus Jahrtausenden.

Wie ist es mit Teilhabe, Mitwirkung, Inklusion? Im Blick auf Menschen mit Behinderung habe ich sorgfältig nochmal und nochmal gelesen: Behinderung kommt nur ein Mal und unter sehr spezieller Perspektive vor, nämlich in Nummer 902: Wenn ein behindertes Kind geboren wird. Ich kenne Mütter, die genau dieses Gebet beten konnten und für die es heilsam war, eine Stütze, ein Trost nach einem Schock. Ich kenne diese Mütter und ich sehe sie mit größtem Respekt. Diese Perspektive hat selbstverständlich ihr Recht. Dort heißt es: „Lieber Vater im Himmel! Wir haben uns sehr auf unser Kind gefreut. Jetzt wissen wir dass es behindert ist. Gib uns die Kraft, unser Kind in Liebe anzunehmen…“ Bei allem Verständnis für Eltern in dieser Lebenssituation und ohne jede Kritik an solchem Beten ist vielleicht die Überraschung über die Behinderung eines Neugeborenen in unserer Gesellschaft nicht ganz so selbstverständlich anzunehmen wie es der Gebetstext andeutet.

Als eine Person aus dem kirchlichen „Wir“ frage ich mich: Ist dieses Gebet alles, was von Menschen mit Behinderungen in ihrer Lebenswirklichkeit zu sagen, zu beten ist? Alles, was „Wir“ über „Die“ wahrnehmen und „Denen“ anbieten? Zum „Lebenskreis“ gehören, wie oben dargestellt, die Fragen mit behinderungsspezifischer Prägung wie die Schulentscheidung zum Beispiel, oder Beruf, Armut, Partnerwahl, oder Fragen wie: „Wo wohne ich?“ oder „Wer ist für mich da im Alter, wenn meine Eltern gestorben sein werden?“ Ein weiteres Defizit, das „Wir“ bei den Lebenswirklichkeiten der Gebete im Evangelischen Gesangbuch haben: Menschen mit psychischen Erkrankungen kommen nicht vor, Menschen, die hospitalisiert sind, also dauerhaft in geschlossenen Einrichtungen leben oder in Spezialeinrichtungen, die vielen Menschen, die demenziell erkrankt sind, Menschen überhaupt, die nicht so denken wie „Wir“, wie Sie und ich, die einen anderen Bezug und Zugang zur Wirklichkeit haben, schon immer oder erst jetzt, freiwillig oder unfreiwillig, „Die“ kommen nicht vor. Sie kommen thematisch in unseren Gebeten – und das heißt im seelsorglichen Handeln der Kirche hier – nicht vor und sie kommen textlich, sprachlich auch nicht vor, wie im Folgenden verdeutlicht wird.

Ein Mensch mit geistiger Behinderung oder ein demenziell erkrankter Mensch hat einen Wortschatz von 250 Worten. „Wir“ in der Kirche haben sehr viele Glaubens-Fachworte. Menschen heute, auch behinderte Menschen, kennen nicht zu viele kirchliche Fachworte. In einem Gebet zum Wochenschluss bietet das Evangelische Gesangbuch unter Nr. 899 folgenden Text: „Ewiger Gott und lieber Vater. Abermals ist eine Woche vergangen. Die Zeit eilt dahin und mit ihr unser Leben, so bitte ich dich: Bleibe bei mir und vergib mir alles, womit ich in dieser Woche deine Liebe gekränkt habe. Sei mir gnädig um Jesu Christi Willen. Und da die Werkstatt meines Lebens in der vergangenen Woche in Unordnung geraten ist, so hilf mir jetzt aufräumen und mit deiner Hilfe alles wieder in Ordnung bringen. Mache mein ganzes Leben zu einer Rüstzeit auf den ewigen Ruhetag bei dir.“ An diesem Gebet ist zunächst nichts falsch. Der Lebenskreis, die Lebenslage, in die Texte wie dieser sprechen, sind auf eine sehr spezielle Klientel ausgerichtet, nämlich auf uns, nicht auf „Die“. „Wir“ können alle irgendwie kognitiv teilhaben. Nicht so „Die“, die draußen sind. Sie sind sprachlich-textlich und zu oft auch in unserer Fürbitte draußen. Wir sehen sie nicht.

Nur mit den Menschen, die wir sehen, kann überhaupt Kontakt entstehen, Veränderung beginnen, Inklusion wirklich werden. Sprachlich ist bei den EKG-Gebeten mindestens in Auswahl mehr Elementarisierung nötig. Die Kindergebete im Evangelischen Gesangbuch mit ihrer vereinfachten Sprache unter den Nummern 860 bis 870 und 936 erfassen zwar sprachlich Aspekte der kindlichen Glaubens- und Lebenswelt mit einfachen Worten, aber greifen die Lebenswelten von Menschen mit Behinderung, Demenz usw. nicht auf. Es geht um die sprachliche Form und die Lebenslage von Menschen, die auch wir in den Kirchen, in der Diakonie, in den Gemeinden zu oft als „Die“ verstehen, die draußen sind.

Agende 3: „Dienst am Kranken“ und nichtsprachliche seelsorgliche Formen

Als weiteres Textdokument wird im Folgenden die Lutherische Agende 3 „Dienst am Kranken“ unter dem Gesichtspunkt der Inklusion analysiert, also unter der Perspektive des in diesem Fall kirchlichen „Wir“. Der „liturgisch geordnete Dienst“ heißt es dort in den Erläuterungen zu Beginn, für den in dieser Agende Hilfen angeboten werden, ist eingebunden in die gesamte seelsorgliche Begleitung kranker Menschen. Die Geordnetheit ist wichtig! Nicht jeder oder jede kann ungefragt in Krankenhäusern „Seelsorge“ anbieten oder gar aufdrängen. Die Agende beschreibt Maßnahmen oder Aktivitäten, die diese Seelsorge stützen: besuchen, hören, sprechen, beten, segnen, das heilige Abendmahl feiern und danken. Und dann folgen Ordnungen und Texte für das, was die sprachliche Gestalt angeht, und dasselbe gilt hier wie für das oben zum Evangelischen Gesangbuch Gesagte: Sprachlich-textlich und von den Lebenswelten müssen mehr Dimensionen wahrgenommen werden.

Auf einen besonderen Schatz für die Inklusion soll hier hingewiesen werden. Seelsorge lebt, das wird hier sehr fein entfaltet, auch von Symbolen und Ritualen wie beispielsweise Kerzen, Blumen oder Salböl. Symbole und Rituale, also Wortzeichen, zeichenhafte Handlungen, helfen, eine Wirklichkeit zu verstehen und zu transformieren. Mit diesen Überlegungen bahnt die Agende für den „Dienst an Kranken“ den Weg zur Inklusion. Denn mit Wortzeichen, einfachen Symbolen und verständlichen Ritualen wird der Weg geöffnet zu Menschen, die wenig sprechen oder anders sprechen oder in elementaren Worten sprechen. Allerdings scheint es nötig, für die Inklusion aller Kranken auf diese elementaren Symbole und Zeichen mehr Aufmerksamkeit zu lenken. Hier tut sich eine große Chance auf, in der Seelsorge das professionell-kirchliche „Wir“ mit „Denen“ zu verbinden und wechselseitige Stärkung zu erfahren. Inklusion beginnt.

Neues Evangelisches Pastorale und inklusive Lebensthemen

Als drittes Textdokument geht es nun um das Neue Evangelische Pastorale. Die 5. Auflage von 2014 folgt der Gliederung „Einführung, Texte, Gebete, Segen“ und strukturiert diese Bereiche doppelt: nach Emotionen und nach Situationen. Nach Emotionen zu strukturieren ist in kirchlicher Literatur selten. Freude, Angst, Trauer, Leere, Scham, Schuld, Wut – das ist die emotionsorientierte Struktur. Gut ist, dass unter dem Begriff „Leere“, wie die Einleitung ausweist, ausdrücklich auch über so etwas wie Burnout oder Überlastung nachgedacht wird. Leere ist dann: Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe. Schöne Worte, auch gute, hilfreiche Psalmen und ein Segenswort mit Texten der Bibel werden angeboten. Das hilft, Leere in Worte zu fassen, wie zum Beispiel von Ulrike Wagner-Rau das Segenswort: „Der lebendige Gott, der dich sieht, hört und versteht – besser als du dich selbst – sei mit dir.“ Das wirkt und bejaht die Emotion eines Menschen in seiner Situation, ohne die Hoffnung auf Veränderung aufzugeben.

Neben dem Ordnen nach Emotionen gibt es als eine zweite Systematik Situationen. Die Agende bietet kleine liturgische Formen für Situationen wie schwierige Übergänge, nach der Geburt, Unfall, Beichte, Segnung und Salbung usw. Ausgebrannt sein und in die Leere laufen ist benannt, auch zwei Seiten über die Frage: Was mache ich als Handelnde, wenn ich an einer Unfallstelle Menschen aus anderen Religionen treffe? Wen darf ich berühren, wen nicht? Was darf ich sagen? Schm`a Jisrael? Vielleicht besser nicht und vor allem nicht als Christin oder Christ das Sterbegebet der muslimischen Welt. Sehr praxisnah und hilfreich sind die christlichen Grundtexte wie das Vaterunser und der Aaronitische Segen, die auch unter extremer Anspannung der handelnden Seelsorgerin oder des Seelsorgers sicher ermöglicht werden.

Solche Texte aber sowie Texte zu allen dargebotenen Lebenslagen brauchen wir auch in elementarer Sprache. Und die Seelsorge braucht Texte für Menschen in ganz anderen Situationen, die „Wir“ bisher nicht berücksichtigen, die für Menschen mit Teilhabeerschwernissen jedoch hilfreich sind. Diese Texte (und Hinweise zu Zeichen und Ritualen) machen Seelsorgerinnen und Seelsorger handlungsfähig. Damit ist ein erster, großer Auftrag an alle gerichtet, die irgendwie mit Agenden – auch der Konfirmationsagende, mit Gottesdienstbüchern oder seelsorglichen Handreichungen zu tun haben: Nehmt die Sprache der Menschen ernst. Und wenn es nicht die Worte sind, dann sagt, welche Gesten helfen, und wenn es nicht die Gesten sind, dann sagt, welche Bilder helfen oder welche Klänge oder welche Bewegungen! Worte, Taten, Gesten, Rituale, auch Blicke und Berührungen werden anders bedeutsam in seelsorglichen Situationen.

Mit dieser kleinen, aber nicht untypischen Literaturschau soll die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, dass manche Dinge inhaltlich längst klar und akzeptiert sind, wie sie sein sollen. Alle gehören zum Leib Christi, alle sind Gottes Ebenbilder. Doch auf der konkreten seelsorglichen und sprachlich-liturgischen Handlungsebene wird das bei wesentlichen Handreichungen für seelsorgliche Dienste zu wenig umgesetzt. Inklusion heißt, dass diese Aufgabe ebenso wenig wie das konkrete kirchliche Handlen an Spezialistinnen und Spezialisten delegiert werden kann (und auch nicht an diakonische Einrichtungen, an Schulen und Kindertagesstätten).

Einen kleinen Seitengedanken gönnen Sie mir: Wenn wir von „wir“ und „ihr“ oder „kirchlich“ und „anders“ sprechen, sollten wir auch an die Geflüchteten denken. Die Geflüchteten, seit 2015 in aller Munde, sie sind Ursache bitteren politischen Streits. Das Beste im Menschen, Solidarität, Barmherzigkeit und Unterstützung, kommt ebenso zu Tage wie die Abgründe im Menschen, nämlich Vernichtungswünsche und Existenzauslöschungsfantasien. Wo sind die Worte, die das Erleben als Geflüchtete in Worte fassen? Die hier helfen und Jesus ins Spiel bringen? Wo sind da die Liturgien, die neuen Beheimatungen, die das Vorläufige in den Horizont des Glaubens stellen? Und wo sind die liturgischen Hilfen für die vielen, die Vergewisserung, Stärkung oder Trost in ihren Aktivitäten brauchen? Inklusion unter diesem Gesichtspunkt heißt gerade nicht, dass kirchlich-liturgische Texte jede politische Situation abbilden sollten.

Geflüchtete und Vertriebene, Krieg und Gewalt gibt es seit Menschengedenken und in Deutschland ebenfalls. Die Geflüchteten und Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges kamen nach 1945 in Agenden, Gebeten, Liedgut und Texten praktisch nicht vor. Sie waren – obwohl christlich geprägt – zu lange nicht kirchlich-gesellschaftlich inkludiert. Soll sich das (auch kirchlich-seelsorglich) fortsetzen im 21. Jahrhundert? Was heißt das, „enthaust“ zu sein? Seinen Ort nicht zu wissen? Die Sprache (und Kultur) nicht zu kennen, nicht teil zu haben?

Als junge Pastorin habe ich das unfreiwillig gelernt. In einem Dorf in Norddeutschland: Plattdeutscher Gottesdienst ist geplant. Die Sprache des Nahbereichs, der Seelsorge. Ein treues Gemeindemitglied sagt mir: „Frau Löhmannsröben, nächsten Sonntag komme ich nicht in Ihren Gottesdienst. Sie predigen ja Plattdeutsch.“ Und sie erläutert mir wie nebenbei beim Hinausgehen an der Kirchentür: „Als wir hierher kamen, 1946, da haben alle Plattdeutsch gesprochen, dass wir´s nicht verstehen sollten.“ Geflüchtete, Vertriebene wurden in christlich geprägten Orten sprachlich ausgegrenzt. Sprache kann Ausgrenzung verfestigen oder überwinden helfen: Deutsch oder Arabisch, Lautsprache oder Gebärdensprache, Regionalsprache oder Weltsprache. Mit der Sprache haben Menschen Anteil an Kultur, an sozialen Gruppen und Lebenswelten – oder „Wir“ grenzen sie als wie auch immer konstruierte Mehrheit aus. Für die Seelsorge bringt diese Einsicht die Aufgabe mit sich, die Sprache der Menschen zu sprechen, auch die der Minderheiten, der Übersehenen und Ausgegrenzten. Die Aufgabe ist, die Lebenswelten von Menschen mit Behinderungen, Menschen mit chronischen Erkrankungen, mit Demenz oder autistischen Menschen sprachlich so zu fassen, dass Begegnung möglich und Inklusion Wirklichkeit wird. Das „Wir-Die“-Denkmuster lässt sich sprachlich überwinden.

Kultursensible Seelsorge im Spannungsfeld

Dieser Gedanke ist mir sehr wichtig geworden durch meine Mitwirkung in der Arbeitsgruppe „Heterogenität in Organisationen“ in der Inklusionspädagogik an der Universität Potsdam. Wir erforschen, wie eine Gesellschaft lernen kann, wie Lehrerinnen und Lehrer an Schulen lernen können, mit Verschiedenheit umzugehen. Die lebensweltlichen Expertinnen und Experten dafür sind die Schülerinnen und Schüler selbst. Im Rahmen einer großen Studie fragen wir sie zum Beispiel: Mit wem sprichst du welche Sprache? Was esst ihr zu Hause? Wo bist du geboren? Wo kommen deine Großeltern her? Unterscheidet sich die Kleidung bei euch zu Hause von der der Deutschen? Denken Deutsche ähnlich wie ihr über Mädchen und Jungen oder über Lernen oder über Geld? Wir fragen also nach der eigenen Kultur, nach der Herkunftskultur, auch nach der Religiosität. Die Vielfalt zeigt sich an den Rückfragen Jugendlicher: „Was bin ich denn? Meine Mutter kommt aus dem Libanon und mein Vater ist Italiener, aber wir sind schon ganz lange in Deutschland und ich bin hier auch geboren.“ Diese kulturelle, religiöse und sprachliche Vielfalt ist eine Realität heute – auf allen Ebenen: im persönlichen Lebensbereich, im sozialen Nahraum und gesamtgesellschaftlich. Wir erklären uns mehr, weil es nicht selbstverständlich ist, dass wir dasselbe meinen, wenn wir sagen: Hochzeit oder Schulabschluss oder Mutter oder auch Lebensende. Oder Glauben. Wir sind verschieden und werden uns dessen stärker bewusst.

Diversität, wachsende Armut, Bevölkerungsrückgang und Hochaltrigkeit sind Kennzeichen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und damit gesellschaftliche Gegebenheiten, mit denen die Seelsorge umgehen muss. Die persönlich-individuelle Ebene reicht als kirchlich-diakonischer Handlungsraum nicht. Die Seelsorge weiß um die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft, Kirche und Welt. Die Inklusion behinderter Menschen verwirklicht sich oder verwirklicht sich nicht in dieser Wechselwirkung.

Dazu sei ein Gedankengang zu unserer eigenen Erfahrung als Kirche gestattet, genauer zu den theologischen und seelsorglichen Herausforderungen im Spannungsfeld von Heil und Heilung. Es gab und gibt zu viel Seelsorge, die sich als „Bessermachen, Andersmachen, Gesundmachen“ versteht, also auch immer noch Gesundbeten, und die gleichzeitig Ausgrenzung ignoriert. Dem können wir nur energisch widersprechen.

„Was willst Du, das ich Dir tun soll?“, fragt Jesus den blinden Bartimäus. Jesus ehrt und würdigt den behinderten Menschen wie alle anderen. In der Erzählung von der Heilung des blinden Bartimäus handelt Jesus in einem explizit seelsorglichen Kontext. Jesus würdigt Bartimäus als den Experten seiner eigenen Lebenswelt und überträgt gerade nicht mögliche Vorstellungen vom guten Leben auf seinen Klienten Bartimäus. Vermeintlich fromme Gedanken von Bestrafung oder Prüfung oder diabolischem Geist sind in dieser Seelsorge Jesu überwunden. In der evangelischen Tradition konnte die Seelsorge, konnte das Bild vom behinderten Menschen dieses nicht durchhalten. Martin Luther hat wie viele in seiner Zeit ein behindertes Kind als Wechselbalg angesehen. Wechselbalg meint „ausgewechseltes Kind“ – der Teufel habe unmittelbar nach der Geburt das eigentlich unbehinderte Kind an sich genommen, seine Beute, und den teuflischen Wechselbalg der Mutter untergeschoben. Damit war es ein Gebot geistlicher Reinigung, solche vermeintlichen Wechselbälger nicht leben zu lassen.

Ein weiteres Beispiel: „Wir“ in der Nazizeit und „Die“, die unnützen Esser, die Menschen mit Behinderungen, die nichts beitragen konnten. Wie viele von ihnen wurden ermordet. Als Seelsorgerin begegne ich den Jugendlichen von damals, heute alt gewordenen Menschen. Viele haben Angst davor, zu nichts mehr gut zu sein, nichts mehr zu können. Warum vereinsamen sie eher zu Hause, als mit einem Rollator auf die Straße zu gehen? Ist es bedrohlich, zu „denen“ zu gehören? „Ich bin ja nur noch ein unnützer Esser.“ Das kann potentiell lebensgefährlich sein. Jedenfalls war es das in der Jugend vieler jetzt alt gewordener Menschen in Deutschland.
Wir sollen nicht denken, dass diese gesellschaftlichen Konstruktionen vom Menschen, die uns als Kirche und Diakonie  umgeben, unseren Glauben und unser Handeln als Christinnen und Christen unbeeinflusst lassen.

Kosten-Nutzen-Abwägung ist üblich gewesen. Nach 1945 oder auch in der ehemaligen DDR nach 1989 erstarkten dann die Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, also die Profis in der Diakonie. Irgendwie ist Diakonie dann auch „Wir“, im weitesten Sinne, wenn es um kirchlich-seelsorgliche Inklusion geht. Einerseits war die Diakonie die Rettung für viele Menschen mit Behinderungen, also Lebensrettung, seit es diese Einrichtungen gibt. Andererseits sind die meisten Menschen in Deutschland völlig unerfahren im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, weil „Wir“ Sonderwelten konstruieren mit unterschiedlichen Teilhabemöglichkeiten und unterschiedlichen Rechten und behinderte Menschen zu oft „Die“ blieben.

Behindertenrechtskonvention

Hier nun kommt die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ins Spiel, die seit 2009, seit zehn Jahren, Gesetzeskraft in Deutschland hat – ein Grund zum Feiern. Die UN-Behindertenrechtskonvention beschreibt eine Behinderung nicht länger als eine Art Eigenschaft, die eine Person hat. Vielmehr ist Behinderung eines Menschen ein Ergebnis der Wechselwirkung zwischen einer individuellen körperlichen, geistigen oder gesundheitlichen Situation eines Menschen und seinem Umfeld, also den Kontextfaktoren. Kontextfaktoren sind alle Einflussgrößen, die die Teilhabe in der Gesellschaft oder in der Kirche betreffen: Treppen oder Rampen, komplizierte oder einfache Sprache, gemeinsame oder trennende Bildung, verständliche oder unverständliche Seelsorge. Als Seelsorgerinnen und Seelsorger gehören wir zu diesen Kontextfaktoren von Behinderung. In unserer Verantwortung liegt es daher, zu enthindern oder zu behindern. „Wir“ sind als Kontext mit dabei, wenn es um Inklusion oder Exklusion, Behinderung oder Enthinderung geht.

Dis-abled und able-bodied: Einsichten aus der internationalen Ökumene

Ich möchte ein Begriffspaar einführen. Dieses Begriffspaar ist englisch. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Blick über unseren seelsorglichen Tellerrand hin zu internationalen Einsichten hilft. Nancy Eiesland, eine lutherische Theologin und Religionswissenschaftlerin aus den USA, selbst körperbehindert, hat sprachlich mit den Begriffen gespielt. Das lässt sich im Deutschen sprachlich nur unvollständig nachvollziehen, bewirkt aber eine wichtige Einsicht. „Disability“ heißt Behinderung und „ability“ heißt Fähigkeit. Das englische Wort „disability“ heißt unfähig oder weniger oder anders fähig. Dis-ability, Nicht-Fähigkeit, im Deutschen übersetzt mit Behinderung. Nancy Eiesland stellt fest, dass, wer über Menschen mit Behinderungen nachdenkt, über Körperlichkeit nachdenken muss. Leiblich machen Menschen Erfahrungen, auch Glaubenserfahrungen. Alle Menschen sind mit einem Leib beschenkt, der Dinge wahrnehmen kann, fühlen, tun. Auch in der Gottesbegegnung. Es ist eine universelle Erfahrung: Jeder Mensch ist geistlich able bodied, befähigt. Gleichzeitig kennt jeder Mensch die Erfahrung, vollständig abhängig zu sein, unabled, z.B. als Säugling, bei schwerer Krankheit oder vielleicht im hohen Alter. Nancy Eiesland beschreibt das als eine universelle Erfahrung von dis-abled sein, die jeder Mensch teilt.

Able-bodied, in diesem Sinne: nicht behindert zu sein, ist also eine nur zeitweise Erfahrung im menschlichen Leib. Für eine inklusive Seelsorge ergibt sich daraus die Aufgabe, die eigene Angst vor Hilflosigkeit neu in Beziehung zu setzen zu dem Leben von Menschen mit Behinderungen. Erinnern diese Menschen uns Seelsorgende wie die Menschen in den Gemeinden unbewusst an unsere eigene Verletzlichkeit, das Risiko, ausgegrenzt zu sein? Mit Nancy Eiesland könnten wir wissen: Disabled und able bodied, behindert leben und auf Zeit enthindert leben, heißt in beiden Fällen, den Leib als Gottesgeschenk und als von Gott befähigten Leib zu erkennen. Die vermeintlich scharfe Trennung von „Die“ (Behinderten) und „Wir“ (Nicht Behinderten) löst sich auf.

Gemeinde der Zugehörigen sein

Was können wir in der Seelsorge, was in Diakonie und Kirche tun? Meine Gedanken stelle ich unter die Überschrift „Gemeinde der Zugehörigen“, das Gegenteil einer Gemeinde der Exklusiven. Einige Handlungsfelder benenne ich exemplarisch.

Aus Geld- und Zeitmangel beklagen kirchlich Aktive schwindende Ressourcen für Inklusion und Teilhabe. Die Seelsorge ist davon unmittelbar mit betroffen. Untersuchungen haben schmerzlich gezeigt, dass in Zeiten personeller Engpässe zuerst das Ureigenste der christlichen Gemeinde entfällt, nämlich die persönlichen Kontakte der Seelsorgerinnen und Seelsorger vor Ort. Ausgerechnet! Was zu schreiben ist, Konfirmandenarbeit, Predigt, die Konferenzen – das lässt sich noch irgendwie bewältigen. Seelsorgliche Besuche aber, oft von schwer planbarer Dauer und fast immer in der pastoralen Erfolgsbilanz unsichtbar, werden weniger. Das sind oft gar keine bewussten Entscheidungen gemeindlicher Seelsorgerinnen oder Seelsorger. Es sind Zielkonflikte. Wer über Seelsorge und Inklusion redet, muss diese Zielkonflikte auf allen Ebenen benennen und adressieren. Alle Seelsorge ist beteiligt an der Auseinandersetzung um kirchlich-diakonische Ressourcen, nicht allein die Seelsorge mit Behinderten oder demenziell Erkrankten oder andere so genannte Spezialseelsorgen. Kirchliche Konflikte sind da und müssen bearbeitet werden. Die nötigen Veränderungen sind, wie oben beschrieben, nicht bequem oder schnell herbeizuführen – und dennoch nötig.

Inklusion konkret: Bauten, Netzwerke, Dienstrecht

Ein anderes weites Feld sind kirchliche Bauten. Es gibt einen Dauerkonflikt zwischen Denkmalschutz und Barrierefreiheit. Hörschleifen werden gestattet, aber stärker sichtbare Hilfen zur Zugänglichkeit wie Plätze für Rollstühle an der Stelle einiger denkmalgeschützter Kirchbänke, Rampen und Handläufe – sie werden verhindert. Hier müssen die Gemeinden der Zugehörigen rechtliche Klärungen aktiv betreiben. Rechtlich zählt bei Kirchen die liturgische Funktion vor dem Denkmalschutz. Ist die Teilhabe aller nicht eine zentrale liturgische Funktion? Da können wir von unseren römisch-katholischen Brüdern und Schwestern lernen, die damit sehr robust umgehen. Wir Evangelischen sind da sehr zögerlich. Warum eigentlich?

Als Gemeinde der Zugehörigen sollen „Wir“ unsere gemeindlichen Netzwerke angucken, um Inklusion weit zu denken. Wo sind Familien mit einem behinderten Kind? Wo pflegt jemand einen demenziell erkrankten Angehörigen? Wo in unserem Gemeindebezirk ist eine Wohngruppe für Menschen mit geistiger Behinderung? Was wissen Gemeindeverantwortliche und was nicht über ihre Gemeinden? Mit einer Kollegin bin ich neulich durch ihre Gemeinde gegangen. Wir kommen an einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung vorbei, ein diakonischer Träger. „Hast du da auch schon Besuche gemacht?“ – „Oh, ich wusste gar nicht, dass die da sind.“ Gemeinden der Zugehörigen delegieren die Teilhabe vermeintlicher Randgruppen nicht länger an Expertinnen und Experten, sondern suchen Kontakt. Sonst fehlen am Leib Christi Glieder, fehlen der Gemeinde wesentliche Perspektiven. Die Gemeinde der Zugehörigen fragt sich: Wie sind unsere Zeiten? Wann können die Mütter mit den kleinen Kindern kommen? Wo bieten wir Kreise an, mit denen verlässlich Menschen begleitet werden, die demenziell erkrankte Angehörige haben? Wo haben wir Gottesdienstbestandteile in elementarer Sprache? Seelsorge und Gottesdienst sind für alle da. Der beständige Auftrag ist, die eigene gemeindliche Komfortzone zu verlassen und sich für ungewohnte Begegnungen zu öffnen. Veranstaltungsformate zu entwickeln, sich einzubringen und wechselseitig die Idee zu verabschieden: „Wir“ für „Euch“ oder gar: „Wir“ ohne „Euch“.

Allein schon aufgrund der gesetzlichen Grundlagen ist das seelsorgliche „Wir“ dabei selbst brüchig. Auch im Großen gibt es kirchlich viel zu tun, wenn es um eine Kirche der Zugehörigen geht. Was ist mit Pastorinnen und Pastoren mit Behinderung? Das Pfarrerdienstrecht sieht immer noch vor, dass Schwerbehinderung für kirchliche Ämter, auf jeden Fall für die Verbeamtung, eine doch deutlich wahrnehmbare Hürde darstellt. Genau gesagt ein Gnadenakt zu sein scheint, weil das Pfarrerdienstrecht sagt, man muss körperlich und geistig in der Lage sein, ein Pfarramt auszuführen. Das wissen zu oft nicht behinderte Entscheidungsträger vermeintlich besser zu beschreiben als die Behinderten. Es gibt einen Konvent behinderter Seelsorgerinnen und Seelsorger, KBS. Dieser Zusammenschluss wird jetzt 30 Jahre alt. Seine wichtige Aufgabe wird er nicht länger erfüllen können, weil sich kein Vorstand findet. Behinderte Seelsorgerinnen und Seelsorger, „Die“, werden an die Schwerbehindertenbeauftragten verwiesen, die es in dieser Weise für Geistliche nicht überall gibt. Folgt daraus nicht die Notwendigkeit theologischer Arbeit auf allen Ebenen, um Inklusionshindernisse zu überwinden? Was bedeutet der Auftrag: „Geht hin in alle Welt!“? Was das Bekenntnis: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“? „Geht an die Hecken und Zäune!“ Ändert euch durch eine neue Art zu denken! Die sonntäglichen Bibellesungen können gemeindliche Wirklichkeit und das Pfarrerdienstrecht verändern. Inklusion heißt: Vielfalt ist eine Gottesgabe.

Inklusion konkret: Ausbildung

Was fordert inklusive Seelsorge für die Ausbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern? Einige Aspekte möchte ich benennen. Unverzichtbar ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung zu sich selbst und zu anderen Menschen. Erfahrungsdefizite, Ängste oder Reichtum an Erfahrungen müssen bewusst Gegenstand der Reflexion werden, damit eine inklusive seelsorgliche Haltung bewusst gefestigt wird. Dazu gehört die Bereitschaft, sich ungewohnten Gedanken zu öffnen und sich verantwortlich Veränderungen zu stellen, statt sie zu umgehen. Seelsorger und Seelsorgerinnen brauchen ein Verständnis ihrer Tätigkeit, das Selbstsorge und Weiterbildung einschließt und wechselseitig schützt. Das braucht Zeit, Hingabe und Begegnung. Für die Anbahnung der Inklusion plädiere ich für gut begleitete und reflektierte Exkursionen: Arbeits- und Lebensorte für Menschen mit Behinderungen, Flüchtlingsheime, Wohngruppen für demenziell erkrankte Menschen und vieles mehr, damit gesellschaftlich randständige Lebenswelten zum Kernbereich der seelsorglichen Wahrnehmung werden. Reflektierte Erfahrung hat Veränderungspotential und befähigt zum Widerstand gegen Ausgrenzungsversuche. Das lässt sich anfangs in einer Ausbildungsgruppe leichter umsetzen als allein.

Wie viele andere seelsorglich-kirchliche Bereiche können auch Ausbildungen von einer pädagogischen Haltung profitieren, die in internationaler Perspektive entwickelt wurde und an die oben beschriebene gesellschaftliche, nachbarschaftliche und persönlich erlebte Heterogenität anknüpft. Als „Culturally Responsive Teaching“, als kultursensibles Lehren, wird eine Lehr-Haltung verstanden, die die Verschiedenheit würdigt, statt sie eliminieren zu wollen. Anstelle einer einseitigen Ausrichtung auf sprachlich-kulturelle Normen der Mehrheitsgesellschaft („Wir“) geht es, verkürzt gesagt, um das Wahrnehmen und Würdigen der Vielfalt, die alle bereichern kann. Wenn deine Kultur die der Schwerhörigen, Nichthörenden, der in Armut Lebenden, der Leistungssportlerinnen und -sportler, der Schulfremden, der Zugewanderten, der geistig Behinderten, was auch immer, ist: Erzähle mir davon! Konflikte werden so leichter lösbar, Teilhabe gelingt besser und „Die“ erfahren wachsende Motivation zu lernen, weil sie gesehen und einbezogen sind.

Forschungen, nicht nur in unserer Arbeitsgruppe, aber unsere auch, haben gezeigt: Schülerinnen und Schüler, die in dieser annehmenden Weise von Lehrerinnen und Lehrern wahrgenommen werden, werden bestärkt. Und alle Schülerinnen und Schüler, die in ihrem So-Sein bestärkt sind, lernen besser. Ein Mensch, der sich verteidigen muss und bedroht und bedrängt ist, kann sich nicht bewegen oder öffnen. Das gilt für alle und überall. Das gilt nicht nur für den vermeintlichen seelsorglichen Durchschnittsfall, sondern das gilt auch für Menschen, die behindert sind. Das gilt für Menschen, die aus anderen Ländern und Kulturen zu uns kommen und genauso draußen oder drin sind wie wir und ihr. Also „Culturally Responsive Teaching“ könnte kirchlich adaptiert werden als „Culturally Responsive Preaching“ oder „Culturally Responsive Spiritual Care“ und damit eine Haltung bewusst fördern, die Predigten, Seelsorge, ganz allgemein Begegnung auf Augenhöhe, Mitwirkung aller und Inklusion fördert. Unterschiede werden wahrgenommen ohne Furcht. Das Gemeinsame wird entwickelt. Aus „Wir“ und „Die“ wird ein erweitertes, erneuertes, inklusives „Wir alle“.

1 Für den Druck überarbeiteter Vortrag; gehalten am 24. Mai 2019 im Zentrum für Seelsorge.

Sprechende Hände. Die Evangelische Taubblindenseelsorge

Silke Rosenwald-Job, Petra Ziehe

Stellen Sie sich vor, Sie können weder sehen noch hören und kommen in einen Raum hinein. In dem Raum sind viele Menschen. Sie wissen nicht, wer da ist. Sie stoßen sich als erstes an etwas, das mitten im Weg steht, und stolpern über einen Gegenstand. Sie bekommen Angst. Sie denken: „Hoffentlich sieht mich jemand und hilft mir.“ Sie warten. Endlich kommt jemand und nimmt sie an die Hand ...

Menschen, die in ihrem Seh- und Hörvermögen stark bis vollständig eingeschränkt sind, erleben solche oder ähnliche Situationen täglich. Sie sind in vielen Belangen ihres alltäglichen Lebens auf Assistenz durch andere Menschen angewiesen. Zudem leben sie in der Gefahr, isoliert von der Außenwelt zu sein. In dem oben genannten Beispiel braucht ein taubblinder Mensch einen anderen, der ihm hilft, sich in dem Raum zurecht zu finden, alles erklärt und die anderen Personen vorstellt.

Hierfür braucht es eine spezielle Sprache, die Taubblinden gerecht wird. Hieronymus Lorm (Pseudonym des Schriftstellers Heinrich Landesmann) wurde selbst taubblind und entwickelte im 19. Jahrhundert aus seiner eigenen Not heraus das Lorm-Alphabet. Die Buchstaben des Alphabetes werden durch Punkte und Striche in die Handinnenfläche ausgedrückt. Auf diese Weise schreibt man sich den Inhalt eines Gespräches gegenseitig in die Hand. Die Handsprache beherrschten Lorms Mutter, seine Frau und auch seine Tochter. Diese Sprache ermöglichte dem taubblinden Lorm den Kontakt zur Außenwelt.

Nach seinem Tod 1902 drohte die Handsprache in Vergessenheit zu geraten, da er selbst keine weiteren Kontakte außerhalb der Familie hatte. Seine Tochter gab die Handsprache jedoch an den taubblinden H. v. Chlumecky weiter. Chlumecky sorgte für deren Verbreitung in der Pädagogik.

Mit dem Lormen öffnete sich für taubblinde Menschen eine Tür zur Außenwelt. Es befreite sie aus der Isolation. Wegen der leichten Erlernbarkeit und Effizienz setzte sich das Lorm-Alphabet in Deutschland durch. Im Wohnheim des Deutschen Taubblindenwerkes Hannover ist das Lormen ein wesentlicher Schwerpunkt in der Kommunikation unter den Erwachsenen. Als Seelsorgerinnen bieten wir unter anderem regelmäßige Abende der Begegnung an. Hierbei wird gemeinsam gegessen und getrunken, gespielt und miteinander geredet. Natürlich über die Handsprache, die auch wir können müssen.

Zu unserer Arbeit gehören nicht nur die sogenannten Klön-Abende, sondern auch Religionsunterricht und Gottesdienste in der Förderschule Hören – Sehen – Kommunikation, Gottesdienste für die erwachsenen Bewohner und Bewohnerinnen, Freizeiten, Seelsorge, Taufen, Konfirmationen, Trauerfeiern und Beerdigungen, viele Kontaktangebote.

Wie bitte? Inklusiver Umgang mit Schwerhörigen und Ertaubten

Cornelia Kühne

Schwerhörige hören nur bruchstückhaft und müssen sich die Lücken durch Kombinieren erschließen. Das erfordert angestrengtes Nachdenken und damit Zeit. Schwerhörige hören also nicht nur leiser. Sie können gewisse, meist hohe Frequenzen nicht hören und damit bestimmte Buchstaben nicht erfassen. Eine Faustregel lautet daher: Deutlich und langsamer sprechen, aber nicht schreien. 

Von einer CD wurden Hörbeispiele vorgespielt, bei denen Frequenzen stufenweise ab 4 kHz, 2 kHz, 1 kHz und 500 Hertz abgeschnitten wurden. Dabei klang das Gesprochene zunehmend undeutlicher, am Ende war nur noch ein Gemurmel vernehmbar. Wichtig hierbei: Eine höhere Lautstärke macht das Gesagte nicht verständlicher.

Statistisch betrachtet ist jeder fünfte Mensch schwerhörig; ab einem
Alter von 70 Jahren sogar jeder zweite – auch in unseren Kirchengemeinden. Lautsprecher allein lösen das Problem des Verstehens nicht, da in Kirchen und großen Gemeinderäumen häufig ein Hall- und Echoeffekt herrscht. Hier können spezielle Höranlagen weiterhelfen.

Wichtig sind auch eine gute und sichtbare (!) Sprechweise (Mundbild) sowie eine gute Beleuchtung. Es geht um eine optische Übertragung des Wortes. Durch Mimik, dezente Körpersprache und durch die Projektion der Texte über Laptop und Beamer werden Liturgie, Predigt, Gebete, Lesungen und Liedstrophen auch für Spät-Ertaubte (nicht zu verwechseln mit Gehörlosen) zugänglich.

Spät-Ertaubten helfen Lautsprecher und induktive Höranlagen sowie Gebärden in der Regel nichts. Sie sind auf Schriftliches (Untertitel) angewiesen. Solche Hilfen kommen dann auch den normal Hörenden zugute. 

Nebengeräusche sind ein weiteres Problem: Das bruchstückhafte Wort „HÖREN“ lässt sich unter Umständen in ruhiger Umgebung noch erschließen (siehe die wenigen Punkte, die geringe Nebengeräusche anzeigen), bei starken Nebengeräuschen haben Schwerhörige jedoch keine Chance mehr – oder erkennen Sie im unteren Teil des Bildes das Wort „HÖREN“?

Geselligkeit ist für Schwerhörige purer Stress. Dies erklärt, weshalb sie von anderen häufig als überempfindlich, gereizt und mürrisch erlebt werden. Um diesem Stress zu entgehen, ziehen sich Schwerhörige zurück in ihre eigenen vier Wände und leben zunehmend isoliert. Dies führt zu psychischen sowie Beziehungsproblemen, auch zu Depressionen. Schwerhörige fühlen sich missverstanden, nicht genügend wertgeschätzt (das Wort „taub“, englisch „deaf“, ist verwandt mit dem Wort „doof“) und ausgegrenzt. Inklusion muss hier ansetzen und Verständnis für die emotionale Befindlichkeit Schwerhöriger wecken.   

Hörgeräte bzw. -systeme können Hörverluste zwar teilweise ausgleichen, sie ersetzen aber nicht das normale gute Hören. Sie sind „Prothesen“.  Gerade die Frequenzen, die nicht mehr wahrgenommen werden, können auch nicht mehr ersetzt werden.

Während des Fachtages wurden auch Tinnitus-Beispiele (Ohrgeräusche) vorgespielt. Hier war spürbar, wie lästig sie (besonders nachts) sind.

Das Herz wird nicht dement. Inkludierendes Verhalten gegenüber demenziell Erkrankten

Anita Christians-Albrecht

Fragt man Menschen in Deutschland, wovor sie am meisten Angst haben, dann steht Demenz, so haben es Umfragen ergeben, ganz oben. In der Öffentlichkeit dominieren meist die „aktiven Alten“: reiselustige Pensionäre, engagierte Freiwillige, Omas und Opas, die mit ihren Enkeln Computer spielen. Die anderen sind in unserer Gesellschaft mehr oder weniger unsichtbar. Vom körperlichen und geistigen Verfall will man am liebsten gar nichts hören und sehen und erst recht nicht von Menschen, die nicht mehr wissen, wer sie sind. Das macht Angst. Und so wird über Demenz auch nicht so richtig offen geredet. Der Krankheit haftet ein Stigma an, auch wenn sie, analog etwa zu Herzerkrankungen, eine organische Krankheit ist, die mit Eiweißablagerungen und Synapsen-Verbindungen im Gehirn zu tun hat. Diese Krankheit sei eine große Kränkung, hat es einmal ein Betroffener formuliert.

Dabei hat Demenz Zukunft. Schon heute ist jede dritte Familie in irgendeiner Form von Demenz betroffen. In Deutschland leben im Moment rund 1,5 Millionen Menschen mit einer der verschiedenen Demenz-Erkrankungen. Für 2050 rechnet die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft mit einer Verdoppelung, also drei Millionen Erkrankten. Der Grund ist, dass wir Menschen immer älter werden. Die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, steigt nach dem 65. Lebensjahr rasant. Und weil Frauen eine höhere Lebenserwartung haben, sind sie häufiger betroffen als Männer.

Mit einem Anteil von 60 Prozent ist die Alzheimer-Demenz die am häufigsten auftretende Form von Demenz. Die zweithäufigste ist die vaskuläre Demenz (15 Prozent). Der Name geht auf das lateinische Wort „vasculum“ zurück, dies bedeutet „kleines Gefäß“. Früher nannte man die Krankheit Hirnarteriensklerose oder, im Volksmund, Verkalkung. Sie wird durch einen oder mehrere Schlaganfälle ausgelöst, durch die Blockierung der Blutzufuhr zum Gehirn. Während die Alzheimer-Demenz allmählich fortschreitet, kann die vaskuläre Demenz plötzlich auftreten und wechsel- oder stufenweise verlaufen.

Die Grenze zwischen Alterszerstreutheit und Demenz ist häufig schwierig auszumachen. Aber keine Angst: Eine leichte Vergesslichkeit im Alter ist normal. Typische erste Anzeichen für Demenz sind dagegen beispielsweise massive Wortfindungsstörungen oder das Nichterkennen eigentlich vertrauter Personen, Gegenstände und Orte. Man spürt, dass das, was eigentlich ganz einfach ist und was man immer gemacht hat, auf einmal nicht mehr geht und dass andere das auch merken und entsprechend reagieren.

Ein Demenzerkrankter drückte es so aus: „Mein Leben findet mittlerweile an einem fremden Ort statt, wo ich mich nicht auskenne.“

Was bedeutet die Diagnose?

Demenz ist keine Geisteskrankheit. Aber vieles geht verloren: das Erinnerungs- und Denkvermögen; das Wissen, wie Dinge zu tun sind; die Fähigkeit, sich sprachlich mitzuteilen; die Orientierung zu Zeit, Raum, Situation und Person; die Fähigkeit, Gesprochenes zu verstehen; die Kontrolle über die Gefühle.

Was passiert?

Führen wir uns am Beispiel von Gerda Meyer  (fiktiver Name) einmal den typischen Lebenslauf einen Menschen in unseren Gemeinden oder Einrichtungen vor Augen, wird das deutlich:

Geburt – Kindergarten – Kindheit auf dem Dorf mit drei Geschwistern – Eltern Bauernhof – Kindergottesdienst – Schule – Konfirmandenunterricht und Konfirmation – Jugendgruppe – erste Liebe – Ausbildung oder Studium – Kennenlernen des Ehepartners – Arbeit – Heirat – Geburt des ersten Kindes – Arbeit oder Familienzeit – Geburt des zweiten Kindes – Arbeit oder Familienzeit – Silberhochzeit – Geburt der Enkelkinder – Ehrenamt – Rente – Reisen – Goldene Hochzeit – Pflegebedürftigkeit

Bei einer Demenzerkrankung ist davon auszugehen, dass das, was etwa nach dem 25. Lebensjahr erlebt wurde (also das im Lebenslauf kursiv Markierte), nicht mehr verfügbar ist. „Nach unserer Meinung löschte Mutter gewissermaßen mit einem Radiergummi die lange Linie ihres 80-jährigen Lebens allmählich aus und kehrte zu ihren zehner Jahren oder zu dem Anfang ihrer zwanziger Jahre zurück“, beschreibt es eine Angehörige.

Margaret Forster berichtet in ihrem Roman „Ich glaube, ich fahre in die Highlands“ (1992): „Grandma kann sich nicht erinnern, was sie vor einer Stunde zu Mittag gegessen hat, aber sie erinnert sich bis ins letzte Detail an das, was sie in den 20er Jahren während ihrer Zugfahrten in die Highlands gegessen hat. Und das macht sie glücklich.“

Immer wieder werden wir in der Begegnung mit Demenzkranken in die Vergangenheit geführt, zum Bäcker, der bereits 1954 sein Geschäft aufgegeben hat, zum Arzt, der nur bis in die 1960er praktizierte. Und vielleicht haben Sie es auch schon erlebt, dass Sie bei einem Besuch nach dem Befinden von Pastor XY gefragt wurden, der schon lange nicht mehr lebte – er war derjenige, der die/den Besuchte*n vor vielen Jahren konfirmiert hatte.

Was lange intakt bleibt, ist das sogenannte Altgedächtnis. Dort sind Erfahrungen aus den frühen Jahren gespeichert: Informationen über das Dorf, in dem man geboren wurde, über Eltern und Geschwister, die Schule, Freundinnen und Freunde, das Kirchenleben und das, was man an Texten, Gedichten, Gebeten und Liedern auswendig gelernt hat. Man muss sich wundern, wie klar und genau diese Erinnerungen sind.

Über dieses Wissen hinaus ist es wichtig, sich immer wieder deutlich zu machen, dass Menschen mit Demenz wohl kognitive Fähigkeiten verlieren, aber selbstverständlich auch weiterhin die Bedürfnisse haben, die sie mit allen anderen Menschen teilen: das Bedürfnis nach Trost, nach Einbeziehung, nach Beschäftigung, nach Identität (jemand zu sein), nach Bindung und Sicherheit, nach Geborgenheit, Liebe, Zuwendung, Anerkennung und Achtung.

Was bleibt und wo man anknüpfen kann, das sind natürlich auch die Gefühle. Demenzerkrankte haben z.B. ein untrügliches Gespür für Atmosphäre. Sie merken, ob jemand wirklich an ihnen interessiert ist oder nur so tut. Und hinter vielen von außen betrachtet seltsamen Handlungsweisen steckt ein Gefühl: Ein demenzkranker Mensch mag in einer anderen Welt leben, die nicht der Realität entspricht. Seine Gefühle aber sind real.

Wenn etwa eine 90-Jährige zu ihrer Mama will, braucht sie meistens Nähe und Geborgenheit. Bestimmte Handbewegungen deuten vielleicht auf den früheren Beruf hin: „Na, Herr Müller, sind Sie wieder fleißig?“ Aggressivität bedeutet oft: Ich bin überfordert, ich habe Angst – gerade bei  Kriegskindern. Ich fühle mich bevormundet oder kritisiert, auch das kann Aggressivität ausdrücken. Das Herz wird nicht dement. Wenn man sich diesen Grundsatz merkt, ist schon viel gewonnen.

Wie lassen sich Brücken bauen?

Wie kann nun inkludierendes Verhalten gegenüber dementiell veränderten Menschen aussehen? Wie kann man eine Brücke bauen? Einige wichtige Aspekte aus der Diskussion im Rahmen eines Erlebnisparcours während des Fachtages fasse ich hier zusammen.

  • Die drei großen A beachten: Atmen (sich selbst auf die Begegnung konzentrieren), Ansprechen mit dem Namen, Ansehen,
  • validieren: Neben einer wertschätzenden und empathischen Grundhaltung bedeutet Validation (validare = für gültig erklären), die Realität des anderen zu akzeptieren, anstatt ihn zu korrigieren oder zurechtzuweisen oder über das, was „stimmt“ zu diskutieren,
  • Zuwendung zeigen durch Berührung, Sprachrhythmus, freundliche Ansprache,
  • Zeit und Geduld mitbringen: Wer auf Krücken geht, ist auf Geduld angewiesen; ein Demenzkranker, der versucht zu reden, ist es auch.
  • Nicht zu viele Worte machen (oder: nicht allzu schlau daherkommen) und präzise sprechen. „Steig bitte ins Auto“ ist besser als „Wir müssen jetzt los.“
  • nonverbale Kommunikation nutzen,
  • Gefühle ernst nehmen und verbalisieren: Welches Gefühl steckt hinter dem Verhalten der oder des Kranken? Wie kann ich zum Ausdruck bringen, dass ich dieses Gefühl wahrnehme: „Sie sind ja ganz aufgeregt“ oder „Jetzt sind Sie aber wütend“. Verbalisiertes verliert oft an Druck.
  •  W-Fragen und Fragen nach aktuellen Ereignissen („Was gab es denn heute bei Ihnen zum Mittagessen?“) und damit Beschämung vermeiden,
  • an das Altgedächtnis und an die frühe Biografie anknüpfen (Mädchenname, Geschwister, Jugenderlebnisse …),
  • Gebete und Sprichwörter nutzen: Man kann es oft erleben, dass Patientinnen und Patienten hier mitsprechen oder einstimmen, auch wenn sie eigentlich schon lange nicht mehr sprechen.
  • Musik und Gesang fördern: Bei bekannten Liedern fangen selbst sehr in sich zurückgezogene Patientinnen und Patienten oft an, sich im Takt der Musik zu wiegen, zu summen oder zu singen.
  • Humor bewahren: Lachen nimmt allen, zumindest für einen Augenblick, die Last von den Schultern. Man hat sozusagen Kurzferien vom Betroffensein. Und auch bei Patientinnen und Patienten mit Demenz bleibt die Freude am Komischen erstaunlich lange erhalten. Das beweisen die sogenannten Geri-Clowns. Die Tatsache, dass der Humor nicht nur auf eine Gehirnregion begrenzt ist, macht ihn sozusagen alters-resistent.

Das Wichtigste ist, die Situation zu akzeptieren. Jemandem mit einem gebrochenen Arm macht man ja auch keinen Vorwurf, dass er in der Bewegung eingeschränkt ist. Demenz ist kein Versagen der Persönlichkeit, sondern das Resultat biologischer oder biochemischer Veränderungen. Die Krankheit bestimmt das Verhalten. Demenzerkrankte sind nicht absichtlich verletzend oder anstrengend. Sie meinen es nicht persönlich. Wenn man sich das klar macht, ist schon viel gewonnen.

Insgesamt gilt: Der Mensch mit Demenz kann nicht mehr zurück in unsere so genannte normale Welt, aber wir können in die seine mit eintauchen. Demenz ist eine fortschreitende Erkrankung. Man kann die Krankheit nicht aufhalten. Aber wenn man den Betroffenen in jedem Stadium mit Respekt begegnet, erweist man ihnen einen großen Dienst, schenkt ihnen Geborgenheit, Trost und Würde.

Augen hören - Hände reden. Gebärdensprachliche Seelsorge

Christiane Neukirch

Ihre Welt ist eine stille Welt. Eine Welt voller Bilder, Gebärden und Berührungen. Unter Hörenden sind sie isoliert. Zu ihrer eigenen Sprachgemeinschaft gehören nur die, die wie sie mit den Augen „hören“ und mit den Händen „reden“: Menschen, die taub sind – von Geburt an oder durch eine spätere Erkrankung oder traumatische Erlebnisse. Und Menschen, die zwar durch ein Cochleaimplantat oder andere Hörhilfen hören können, sich aber dennoch für ein Leben als Gehörlose entschieden haben.

Sie sind insgesamt nur wenige unter vielen, oft unterschätzt und für dumm gehalten. Sie müssen es ertragen, dass die Gesellschaft, in der sie leben, ihre Bedürfnisse nicht oder nur sehr wenig berücksichtigt und ihre Ressourcen weitgehend nicht erkennt. Die Haltung, der sie meistens begegnen, nennt die Gebärdenforschung „Audismus“. Hören und Sprechen werden dabei hoch bewertet, Menschen, die hörgeschädigt oder taub sind, werden dagegen als bedauernswert eingestuft. Ihre kulturelle Leistung, die Entwicklung einer ganz eigenen Sprache, wird nicht wahrgenommen und ihre Lebensweise abgelehnt. Daraus folgt für die Betroffenen das Gefühl einer ständigen Diskriminierung durch die hörende Umwelt.

Auch in der Seelsorge spiegelt sich die Haltung des Audismus wider. Seelsorge ist ein weitgehend verbales Geschehen. Sie sucht die Symbolik der Worte, sie ergründet sprachliche Nuancen und Differenzierungen und die Motive, die dahinterstehen, sie verfolgt Gesprächsverläufe anhand von Gedächtnisprotokollen, sogenannten Verbatims, sie kommt ohne die Lautsprache nicht aus. Aber wie kann sie so Menschen gerecht werden, die keine oder nur sehr wenige Worte brauchen und haben? Deren Sprache die Gebärdensprache ist? Will Seelsorge inklusiv sein, dann geht sie auch auf diese Menschen zu und bemüht sich, ihre Welt kennenzulernen, zu verstehen und sich in ihrer Sprache mitzuteilen.

Der Fachtag des Zentrums für Seelsorge im Jahr 2019 bot dafür eine ganz konkrete Möglichkeit: Im Workshop „Vaterunser in Gebärdensprache“ konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Entdeckung machen, dass man auch mit den Händen wichtige Inhalte zum Ausdruck bringen kann, ja manchmal sogar noch viel kompakter und klarer als es Worte vermögen. Sie staunten über die drei nach oben gestreckten Finger bei der Gebärde für „Gott“ und über die gegenseitige Berührung der Handinnenflächen durch den Mittelfinger der jeweils anderen Hand bei der Gebärde für „Jesus“. Sie schmunzelten über die Gebärde für das Wort „Versuchung“, bei der die Zeigefinger beider Hände parallel eine Lockbewegung ausführen. Und sie waren begeistert über die Gebärde für die christliche „Ewigkeit“, bei der die rechte Hand den Weg Jesu nachvollzieht: ins Reich des Todes unter der Erde – die Erdoberfläche wird mit der linken Hand dargestellt – durch die Auferstehung direkt in den Himmel.

Wer bei dem Workshop dabei war oder jetzt lernen möchte, das Vaterunser zu gebärden, schaue sich die Gebärdenfassung, die in Niedersachsen gültig ist, auf den nachfolgenden Fotos an. Wer den Workshop zum Vaterunser in Gebärdensprache für die eigene Gemeinde oder Einrichtung anbieten möchte, wende sich an das Zentrum für Seelsorge, Pastorin Christiane Neukirch, Beauftragte der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers für die gebärdensprachliche Seelsorge. Wer mehr über die Arbeit der Gebärdensprachlichen Seelsorge in Niedersachsen wissen möchte, gehe auf die Internetseite www.gl-kirche.de oder besuche einen Gebärdengottesdienst.

Inklusion aus der Sicht der Systemischen Seelsorge

Petra Eickhoff-Brummer

Als Frau Christians Albrecht mich bat, einen Impuls zu Inklusion aus Sicht der Systemischen Seelsorge an diesem Fachtag zu halten, begann mein Gehirn unmittelbar einen Scanvorgang. Im Geiste blätterte ich durch einige Monografien zur Seelsorge: Ziemers Seelsorgelehre1, Klessmanns Pastoralpsychologie2, Nauers Seelsorge3, Morgenthalers Systemische Seelsorge4. Und da war erstmal – nichts.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, lässt sich sagen – die Seelsorgelehre ist keine Vorreiterin der Theoriebildung oder der Entwicklung von Praxiskonzepten von Inklusion. Das Feld der Inklusion wurde lange Jahre in der Pädagogik und Sonderpädagogik verhandelt – mit der Frage: Wie können Bildungs- und Lernprozesse so gestaltet werden, dass niemand ausgeschlossen wird?

Dazu passt auch meine ganz berufspraktische Erfahrung. Die Frage nach Inklusion hat sich mir regelmäßig und dringlich im Konfirmandenunterricht, also auch im Bildungsbereich in meiner Zeit als Gemeindepastorin gestellt.
Wenn ich Ihnen also heute etwas zum Thema Inklusion aus Sicht der Systemischen Seelsorge erzähle, so setze ich I. nicht umsonst an bei einem Beispiel aus dem Konfirmandenunterricht, möchte Ihnen II. daran einige Prämissen und Leitideen systemischen Denkens bzw. Handelns aufzeigen und schließe dann III. mit einem Blick auf die Seelsorge.

I. Paul

Paul war ein kleiner, drahtiger Junge, sehbehindert, mit mehreren Diagnosen etikettiert, unter anderem ADHS, und er besuchte eine Förderschule. Seine Mutter und er suchten mich auf. Paul wollte gern den „normalen“, wie er es sagte, Konfirmandenunterricht (KU) bei uns in der Gemeinde besuchen und nicht den mit seinen Mitschüler*innen aus seiner Förderschule.

Ich fand das mutig. Ich wollte das unterstützen. Aber da lag ein Risiko. Denn: Aus der Gemeinschaft seiner Mitschüler*innen würde er durch die Teilnahme am „normalen“ KU herausfallen. Da wäre er exkludiert. Wie es ihm im normalen KU gehen würde, das wusste er nicht. Und ich auch nicht. Dabei sein ist eben nicht alles. Wichtig wäre ja, dass er da nicht zum gemiedenen Außenseiter würde. Wichtig wäre ja nun, dass sich an dieser Stelle am Ende nicht zwei Exklusionen aufsummieren.

Ein erster Sprung auf die Metaebene: Systemiker*innen sprechen in der Theorie von Inklusion, „wenn Personen als für Kommunikation relevant behandelt werden.“6  Das bedeutet, dass sie angesprochen werden. Also Menschen werden gesehen, beachtet, man fragt nach ihnen, sie werden angesprochen, man wendet sich an sie und ihre Äußerungen werden als bedeutsam erachtet. Andere schließen an das an, was jemand sagt. Exklusion meint dann im Gegenzug, „dass Personen als für Kommunikation nicht relevant behandelt werden.“7  Und Kommunikation ist mehr als nur zu reden.

Zurück zu Paul: Wie aber konnte das gehen, einen Jungen mit dermaßen vielen Hummeln im Hintern, völlig verrückten Ideen, der mit allem, was Lesen und Schreiben und Konzentrieren anging, seine Mühe hatte und jeden Kugelschreiber zuerst einmal einem ausgiebigen Materialtest unterzog, im normalen KU zu unterrichten?

Systemiker*innen haben, wenn sie mit solchen Fragen umgehen, eine ganze Menge an Theorie, an spezifischen Sichtweisen und an praktischem Handwerkszeug im Hintergrund. Die Haltungen und Interventionen aus der systemisch orientierten Praxis erwachsen dabei aus den metatheoretischen Wurzeln, die ich kurz mit den Stichworten Systemtheorie und Konstruktivismus anreißen will. Es ist das Zusammenspiel von Theorie, Haltung und Interventionen, das das systemische Arbeiten kennzeichnet. Vier Leitideen systemischen Handelns möchte ich Ihnen an dieser Stelle exemplarisch vorstellen.

II. Vier Leitideen systemischen Handelns
1. Viabilität statt Wahrheit

Viabilität ist eine Wortschöpfung im Anschluss an den radikalen Konstruktivisten Ernst von Glasersfeld. Es bedeutet soviel wie Gangbarkeit8. Das heißt: Systemiker*innen suchen nach gangbaren Wegen. Nach dem, was neue Möglichkeiten schafft, nach neuen Optionen, nach bisher ungedachten Gedanken, bisher nicht gegangenen Wegen, nächsten kleinen Schritten. Es kann aber auch immer sein, dass sich beim Gehen herausstellt, dass es auf einem Weg nicht weitergeht. Dass eine Lösung sich als nicht bekömmlich, ein Weg sich als zu anstrengend, zu zermürbend herausstellt. Dann braucht man andere, jetzt gangbare Wege. Will heißen: Im Bereich der Inklusion ginge es nach diesem Kriterium nicht um das Befolgen des „richtigen Weges“ oder um moralische Imperative, sondern um gangbare Wege, die für den einzelnen individuell möglichst passig sind. Es geht um individuelle Inklusionsprofile, die mit den Betreffenden individuell entwickelt werden. Günther Emlein nennt das auch die Ermöglichung flexibler Teilhabe9. Das steht in Verbindung mit einer zweiten Leitidee systemisch orientierten Handelns.

2. Handele so, dass du die Möglichkeiten der Betroffenen vergrößerst – und lass den Betroffenen die Wahl

Menschen werden konsequent als Expert*innen für ihr eigenes Leben betrachtet. Als Subjekte, nicht als Objekte der Bemühungen, wo die Experten schon immer besser wissen, was für jemanden gut ist. Dies ist verbunden mit Neugier auf mein Gegenüber, mit einer Haltung der Würdigung, der Achtung und des Respekts. Ziel des Handelns ist, die Möglichkeiten meines Gegenübers zu vergrößern.10 Dazu gehört, dass das Gegenüber Wahlmöglichkeiten bekommt, die geachtet werden. Sie kennen alle die Geschichte von Jesus, der den Blinden fragte: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Lk 18,41). Selbst Jesus weiß es nicht einfach besser, was für sein Gegenüber gut oder dran ist, sondern er fragt. Damit es eine Wahl geben kann, braucht es Möglichkeiten, die eruiert und unter Umständen erst geschaffen werden müssen. Um Diskurs, der mühsam sein kann, kommt man nicht herum.

3. Der Kontext macht den Unterschied

Menschen haben Gefühle und Gedanken nicht im luftleeren Raum, sondern immer in bestimmten Kontexten. Der Kontext bestimmt immer mit, welches Verhalten als angemessen gilt, was geht und was nicht geht. Und auch, was sich wie gravierend als behindernd auswirkt.

Der Kontext hier war KU, im Unterschied zu Schule oder Familie. Die Ziele im KU waren sichtbar anders als in der Schule. Hier wurde nicht auf Klausuren hin gelernt, hier ging es viel um das Miteinander in der Gruppe, um gemeinsames Kennenlernen von Spiritualität, um Beten, Gottesdienst, Andacht feiern und selbst gestalten; gelernt wurde nicht nur mit Arbeitsblättern, sondern auch mit Planspielen und kreativen Aktionen. Hier gab es eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Anforderungen und Handlungen, die auch zu einer Variation und Vermehrung der Kontaktflächen zwischen den Jugendlichen führte. Sie waren in anderen Dimensionen erreichbar. Das hieß aber, dass das, was für Paul in einer „normalen“ Schulklasse exkludierend gewirkt hätte – seine geringe Konzentrationsspanne, die motorische Unruhe, die Sehbehinderung, im KU eine geringere Barriere darstellte. Es schloss ihn in geringerem Maße von den stattfindenden Kommunikationen aus und ließ sich durch Assistenz innerhalb der Gruppe selber leichter ausgleichen bzw. sogar um neue Kontaktflächen erweitern.  Der Kontext wirkte als eine Ressource. Was uns direkt zum nächsten und letzten Punkt führt.

4. Ressourcen- und Kompetenzorientierung

Systemiker*innen erkunden gezielt Ressourcen und Kompetenzen und suchen sie zu nutzen. Was Paul anging – er war ein fröhlicher, zugewandter Junge. Er sang gern und hatte eine schöne Stimme. Er war überhaupt nicht nachtragend, er suchte Kontakt, er war offen und bot damit viele Möglichkeiten für Anknüpfungen von Kommunikation.

Die Jugendlichen waren eine bunt zusammengewürfelte Gruppe aus verschiedenen Schulformen. Sie hatten genug Neugier und Energie, um sich auf das Setting, die Gruppenmitglieder und andere Themen und Arbeitsformen einzulassen. Und: Wir hatten personelle Ressourcen im KU. Zwei Unterrichtende, wir konnten die Gruppe teilen und mit jeweils zwölf Jugendlichen arbeiten. Das sei hier ganz ausdrücklich erwähnt. Ohne Personaldecke, ohne Zeit und damit das Geld, das in Personal investiert wird, geht es nicht. Und das ist eine Frage, die sich auch nicht auf der operativen Ebene lösen lässt. Wenn nicht Zeit und Geld und Personal da sind, wird Inklusion zu einem moralisch aufgeladenen Imperativ, der bei bester Absicht alle überfordert.

Die Entwicklung eines individuellen Inklusionsprofils sah bei Paul am Ende so aus: Paul bekam jede KU-Stunde ein Mitglied der Gruppe als persönliche Assistenz zur Seite gestellt. Seine persönliche Ansprechperson saß bei ihm, unterstützte ihn bei Bedarf, half ihm zum Beispiel beim Bibelaufschlagen, las Arbeitsblätter manchmal vor oder half beim Ausfüllen. Wir hatten einen großen Raum, Paul durfte, wenn das mit dem Sitzen gar nicht mehr ging, auf und ab laufen. Wenn auch das nicht reichte, durfte er zwischenzeitlich rausgehen. Er ist in dem Jahr viele Kilometer um unseren Stuhlkreis gepilgert. Paul war Teil der Gruppe. Es war mit ihm abgesprochen, was wir über seine persönliche Situation und seine Bedürfnisse veröffentlichten. Seine Mit-Konfis konnten wahrnehmen und nachvollziehen, warum es für ihn Abweichungen von den üblichen Verhaltensregeln gab. Und: Die Verantwortung der persönlichen Assistenz hat vielen Spaß gemacht. Das war eine neue Aufgabe.

Die Suche nach gangbaren Wegen – mein Kollege und ich haben uns dabei von einer erfahrenen Sonderpädagogin beraten lassen. Inklusion braucht multiprofessionelles Zusammenarbeiten. Wir haben dann darauf gesetzt, dass die Gruppe inklusive Paul uns in ihren Reaktionen zeigen würde, ob es so geht und welche Vorschläge zu konstruktiven Prozessen führen. Systemisches Handeln ist immer feed-back-gesteuertes Handeln und prozessorientiert. Und: Inklusion verändert alle Beteiligten. Inklusion verändert das gesamte System.

III. Seelsorge und Inklusion

Da, wo Menschen nicht mehr angesprochen werden, wo sie nicht mehr adressiert werden, wo sie nicht mehr relevant sind für Kommunikation, fallen sie raus. Inklusion kann gelingen, wenn und indem sie kommunikative Anschlüsse schafft. Das gilt für Seelsorge genauso wie für Unterricht. Wer sich um Inklusion bemüht, muss also nach Kommunikationsformen suchen, die bei den Betroffenen auch anschließen. Metaphorisch gesagt: Wir müssen die Sprache unseres Gegenübers lernen.11 Wir müssen die Sprache unseres Gegenübers zu verstehen suchen und diese zumindest ansatzweise sprechen lernen.Ein Jugendlicher mit Sinneseinschränkung und ADHS braucht andere Kommunikationsformen als ein alter und dementer Mensch. 

Das ist für eine Kirche des Wortes und für eine Seelsorge, die ja stark am Gespräch ausgerichtet ist, eine große Herausforderung. Wie sprechen wir Menschen an, wenn sie eingeschränkt oder gar nicht mehr über unsere kognitive Sprache kommunizieren? Es geht oft über den Körper und über die Sinne. Über Rituale, über Beten, Segnen, über Töne und Musik, über Singen, Bilder, Icons, über Fühlen, über Düfte. Unser Gegenüber zeigt uns durch ihre oder seine Reaktion, ob wir in Kontakt gekommen sind und ob es ihr oder ihm gut tut. Etliche von Ihnen hier im Saal arbeiten in Kliniken, diakonischen Einrichtungen. Für Sie ist das Ihr tägliches Geschäft. Sie tun all das und Sie tun es seit langem. Das Schöne ist, diese Formen der Kommunikation werden inzwischen auch in der Theoriebildung stärker wahrgenommen, wertgeschätzt und gezielt entwickelt. Ein Beispiel ist
Peter Frör, der die Seelsorge auf der Intensivstation thematisiert.12

IV. Seelsorge und die Seele

Seelsorge vollzieht sich als kommunikatives Geschehen. Die Sorge um die Seele ereignet sich als Kommunikation. Das Wort Seele setzt dabei einen besonderen Akzent.

Seele ist kein humanwissenschaftlicher Begriff.  Weder die Psychologie noch die soziale Arbeit oder die Pädagogik reden von Seele. Seele lässt sich nicht exakt beschreiben oder fassen, dingfest machen oder festnageln in unseren menschlichen Denkformen. Sie entzieht sich dem. Sie reicht darüber hinaus. Das Wort Seele gehört in den Bereich der Religion, der eben vom dem spricht, was uns Menschen übersteigt. Sie können das abstrakt das Transzendente nennen oder in der Sprache der Religion und des Glaubens von Gott sprechen. Seele verstehe ich als Chiffre für die Unverfügbarkeit des Menschen (Emlein)13. Seele verstehe ich als die von Gott geschenkte Lebendigkeit.

Dass wir hier über Inklusion aus der Sicht der Seelsorge sprechen, macht deutlich, wir fügen noch eine Perspektive über das bisher über Kommunikation Gesagte hinzu. Nämlich eine religiöse, genau gesagt, eine christlich geprägte Perspektive. Aus dieser Perspektive sehen wir manches anders. Metaphorisch gesprochen, wir sehen die Welt und die Menschen im Lichte Gottes. Systemiker*innen nennen das übrigens eine Zweitcodierung: „Den Code der Religion zu verwenden, heißt, allem Irdischen etwas Andersartiges gegenüberzustellen. Irdisches wird noch einmal in ein anderes Licht gerückt. Dasselbe wird noch einmal anders gesehen, es bekommt eine zweite Interpretation.“14

Wenn wir den Menschen also als Seele sehen, sehen wir ihn als einen, dessen Lebendigkeit ein Geschenk von Gott her ist. Dessen Würde ein Geschenk von Gott ist. Aus dieser Perspektive ist es uns entzogen, über die Würde oder den Wert eines Lebens zu urteilen. Wir reichen da überhaupt nicht hin. Der Grund unseres Lebens ist unergründbar. Für mich drückt sich diese Dimension unserer Existenz in den Metaphern der Gotteskindschaft und der Gottesebenbildlichkeit aus. Diese Kinder und Ebenbilder sind alle verschieden. In dieser Verschiedenheit sind sie aber genau das – Gottes Kinder, seine Ebenbilder. Und da ist keiner, weil er alt ist oder jung ist, oder weil er fremd ist oder krank oder behindert ist, exkludiert.

Aus dieser Perspektive wird Seelsorge Menschen nicht durch die Brille von Etikettierungen und Diagnosen sehen oder sie gar therapieren wollen, um Defizite zu beseitigen. Sondern sie wird im Gespräch, in der Begegnung lebensförderliche Sichtweisen entfalten, Handlungsmöglichkeiten erkunden und sich als wohlwollendes Gegenüber zur Verfügung stellen. Damit dies möglich wird, muss sich Seelsorge zuallererst um die spezifische Sprache des Gegenübers bemühen. Sie wird sie zu verstehen und zu sprechen lernen suchen. So kann sie Menschen als für Kommunikation relevant behandeln und helfen, aus dem Draußen ein Drinnen zu machen.

Fußnoten

1  Jürgen Ziemer, Seelsorgelehre. Göttingen 3/2008.

2  Michael Klessmann, Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch. Neukirchen 2/2004.

3  Doris Nauer, Seelsorge. Sorge um die Seele. Stuttgart 3/2014.

4  Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis. Stuttgart. 5/2014.

5  Eine Ausnahme bildet Günther Emlein in seiner Dissertation: Das Sinnsystem Seelsorge. Eine Studie zur Frage: Wer tut was, wenn man sagt, dass man sich um die Seele sorgt? Göttingen 2017. Emlein setzt dabei in der Verwendung des Begriffes Inklusion auf die Systemtheorie Luhmanns auf und betrachtet in Folge Inklusion und Exklusion als zwei Seiten eines Beobachtungsschemas. Spezifisch für das Feld der Sonderpädagogik siehe auch: Günther Emlein, Inklusion als Vision der Frühförderung. Frühförderung interdisziplinär 36 (2017), 2-17.    

6  Günther Emlein, Inklusion als Vision der Frühförderung, 3.

7  Ebd.

8   Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Göttingen 2012, 120ff.

9   Günther Emlein, ebd. 10.

10 Siehe den ethischen Imperativ von Heinz von Foerster: „Handle stets so, dass du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!“ zitiert in: Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Göttingen 2012, 200f.

11 Vgl dazu auch Wolfgang Drechsel, Die Vielfalt der seelsorglichen Praxis als Grundlage der Frage nach der Seelsorge. In: Wolfgang Drechsel, Sabine Kast-Streib (Hg.), Seelsorgefelder. Annäherung an die Vielgestaltigkeit von Seelsorge. Leipzig 2017, 103, 107ff, 123f.

12 Peter Frör, Wilhelm Frör, Praxisort Intensivstation. Seelsorge und moderne Bewusstseinsforschung im Dialog. Stuttgart 2008. Anschlussfähig auch Wolfgang Drechsel, ebd. 101-124.

13 Günther Emlein, Sinnsystem Seelsorge, 282-299, 311-313.

14 Martin Ferel, Systemisch orientierte Seelsorge – was ist das? Transformationen 12 (2009/2), 14.

Dunkelgottesdienste – oder: Was ist eigentlich dunkel?

Andreas Chrzanowski

1. Vor dem Vorhang: bevor es losgeht

„Achtung, jetzt geht’s los! Halten Sie sich gut fest!“ Mit diesen Worten beginnt für die meisten sehenden Besucherinnen und Besucher eines Dunkelgottesdienstes ein kleines Abenteuer. Gleich wird sich der Vorhang der Schleuse öffnen und eine Blinde oder ein Blinder wird sie in eine verdunkelte Kirche führen. Sie sind gespannt, erwartungsvoll und ein klein wenig aufgeregt. Und dann noch ein paar letzte Fragen, bevor es losgeht. Kann man in der Kirche tatsächlich nichts mehr sehen? Wird zwischendurch das Licht eingeschaltet? Müssen wir alle Lieder auswendig singen? Was ist, wenn ich die Dunkelheit nicht mehr aushalte?

Das sind ganz natürliche Fragen, wenn man zum ersten Mal einen Dunkelgottesdienst besucht. Und zu den Fragen der Besucherinnen und Besucher kommen die eigenen Fragen. Was für einen Sinn macht es, eine Kirche mühevoll zu verdunkeln? Steht der enorme Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu dem, was er am Ende bewirkt? Ist ein solches Projekt nicht doch nur ein Event-Gottesdienst, bei dem das Abenteuerliche vor dem spirituellen Erlebnis steht?

In diesem Beitrag möchte ich auf die praktischen und grundsätzlichen Fragen eingehen und Chancen und Grenzen eines Dunkelgottesdienstes beleuchten. Doch bevor sich dazu der Vorhang öffnet, eine einfache Frage: Was ist eigentlich dunkel?

2. Was ist eigentlich dunkel ?

Es ist eine der meistgestellten Fragen an blinde Menschen: Sehen alle Blinden nur schwarz? Die Antwort darauf mag für viele überraschend sein. Nein. Blind ist nämlich nicht gleich blind.

Menschen, die kaum etwas Helles wahrnehmen können, sind die absolute Ausnahme. Die meisten als blind bezeichneten Menschen haben hingegen noch irgendeine Art von Seheindruck. Was sie noch wahrnehmen, hängt dabei von der jeweiligen Sehbehinderung ab, die zu der Erblindung führte. Und darum gibt es Blinde, die nur graue Flächen sehen, und andere, die nur über ein stecknadelkopfgroßes Sehfeld verfügen oder wieder andere, die wie durch ein getrübtes Glas gucken.

In Deutschland gilt dem Gesetz nach als blind, wer über weniger als zwei Prozent Sehvermögen verfügt. Blindheit ist in Deutschland mittlerweile zu einer typischen Alterserkrankung geworden. Und die Zahlen sind steigend. Das Durchschnittsalter der Erblindung liegt bei 78 Jahren.

Sehen alle Blinden nur schwarz? Hinter dieser Frage steht nicht nur das Bedürfnis nach Information über den Seheindruck von sehbehinderten Menschen. Man kann vermuten, dass sich dahinter noch mehr verbirgt. Die Angst vor der Dunkelheit gehört zu den Urängsten der Menschen. Darum ist die Vorstellung, das Augenlicht zu verlieren und nur noch im „Dunkeln“ zu sein, mit großen Ängsten verbunden. Wer einen Dunkelgottesdienst plant, sollte deshalb bedenken, dass manche Skepsis und Zurückhaltung einem solchen Projekt gegenüber auch mit dem jeweils eigenen Verhältnis zum Thema Dunkelheit zu tun hat.

3. Was erwartet einen hinter dem Vorhang? Warum ein Dunkelgottesdienst?

Neben einer gewissen Angst vor der Dunkelheit üben allerdings verdunkelte Räume auch einen großen Reiz auf sehende Menschen aus. Das gilt für sogenannte Dunkelrestaurants, bei denen das Essen im Dunkeln eingenommen wird, das gilt aber erst recht für Kirchenräume. Kinder und Erwachsene unterscheiden sich in diesem Punkt nach meiner Erfahrung kaum. Diese Neugier bewirkt, dass Besucherinnen und Besucher eines Dunkelgottesdienstes aufgeschlossen und gespannt sind, die Welt sehbehinderter und blinder Menschen für eine begrenzte Zeit kennenzulernen. Natürlich gibt es noch andere Möglichkeiten, Sehbehinderungen erfahrbar zu vermitteln, doch keine ist so körperlich unmittelbar und intensiv wie die, einen verdunkelten Raum zu betreten und ihn auf sich wirken zu lassen.

Ein Dunkelgottesdienst sollte den Anspruch haben, sehende und sehbehinderte Menschen zusammenzubringen. Dabei geschieht ein ungewohnter Rollentausch. Helferinnen und Helfer werden zu Hilfe-Annehmenden und diejenigen, die normalerweise Hilfe annehmen, werden zu Helfenden. In den Gottesdiensten erleben Besucherinnen und Besucher Blinde und Sehbehinderte als Begleiter, Lesende, Predigerinnen, Musiker, Moderatorinnen, kurzum als Akteure. Aus vielen Rückmeldungen habe ich erfahren, dass das die Haltung gegenüber Menschen mit einer Beeinträchtigung verändern kann. Allein aus diesem Grund halte ich einen Dunkelgottesdienst für ein interessantes inklusives Projekt.

Martin Luther hat für den Gottesdienst eine einfache Definition gefunden. In ihm soll nichts anderes geschehen, „als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“. Diese beiden Aspekte eines Gottesdienstes, das Hören auf Gottes Wort wie auch das Beten und Singen, erleben Menschen in einem Dunkelgottesdienst als besonders intensiv. Sie hören konzentrierter den Lesungen und den gesprochenen Worten zu, empfinden das Singen und Beten als besonders gemeinschaftsstiftend, spüren den meditativen Charakter. Sicherlich reizt es Menschen, eine vollkommen verdunkelte Kirche zu erleben. Und vielleicht ist manchmal auch ein abenteuerliches Element mit dabei. Nehmen aber alle, die für die Gestaltung Verantwortung tragen, den Gottesdienst ernst, so ist meine Erfahrung, kann ein Dunkelgottesdienst eine besonders aufbauende Wirkung entfalten.

Zwei seelsorgliche Beobachtungen möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen. Sehbehinderungen lösen oft tiefe Lebenskrisen aus. Die meisten Betroffenen lernen aber mit der Zeit, diese Krise zu bewältigen. Sie beginnen neue Lebenswege und entdecken Fähigkeiten, die sie vorher an sich noch nicht wahrgenommen haben. Sind Menschen mit dieser Erfahrung an der Gestaltung eines Gottesdienstes beteiligt und können sogar selbst davon berichten, kann das für die Besucherinnen und Besucher tröstend und ermutigend für den Umgang mit eigenen Lebenskrisen sein.

Eine zweite Beobachtung: In Dunkelgottesdiensten ist es dunkel auf eine begrenzte Zeit. Vielen ist nach einem solchen Erlebnis die Erleichterung anzumerken, wieder alles mit den Augen wahrnehmen zu dürfen. Sie formulieren es dann manchmal fast so wie der Psalm 139: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin. Das erkennt meine Seele.“ Auch das kann meiner Meinung nach eine gute Erkenntnis nach einem Dunkelgottesdienst sein.

Bislang habe ich die großen Chancen eines Gottesdienstes in dieser besonderen Form hervorgehoben. Es gibt aber auch Grenzen. Er schließt auch Menschen aus. Dazu gehören Gehörlose, die auf ihren Sehsinn angewiesen sind, und natürlich auch Menschen, die eine phobische Angst vor der Dunkelheit haben. Auch für Menschen mit einer anderen Form der Beeinträchtigung kann ein Dunkelgottesdienst zu einer großen Herausforderung werden. Im Vorfeld sollte das offen kommuniziert werden.

4. Dunkel, dunkler, am dunkelsten: Wie verdunkelt man eine Kirche?

Um einen Gottesdienst im Dunkeln zu feiern, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: 1. Man arbeitet mit Schlafmasken, die die Besucherinnen und Besucher während des Gottesdienstes tragen. Oder 2.: Mit unterschiedlichen Materialien verdunkelt man den Gottesdienstraum so, dass die Augen sich nicht mehr an die Dunkelheit anpassen können und es absolut dunkel ist.

Es liegt auf der Hand, dass die erste Möglichkeit nicht nur einen geringeren Aufwand erfordert, sie ist natürlich auch wesentlich günstiger. Außer dem Kauf von Schlafmasken, die man in Drogeriemärkten erwerben kann, hat man, was die Verdunkelung angeht, keine weiteren Kosten. Wer sich für diese Lösung entscheidet, sollte daran denken, die Schlafmasken für den nächsten Einsatz vorher zu waschen, da ansonsten die Übertragungsgefahr von Infektionskrankheiten groß ist. Alternativ händigt man neben der Schlafmaske auch Papiertaschentücher aus, mit denen man die Augen direkt vor Übertragungen schützen kann. Mit Papiertaschentüchern trägt sich die Schlafmaske zudem für die meisten Menschen wesentlich angenehmer.

Neben dem offensichtlichen Vorteil, Schlafmasken einzusetzen, gibt es aber einen entscheidenden Nachteil. Das unmittelbar körperliche Erleben von Dunkelheit ist in einem verdunkelten Raum für sehende Menschen wesentlich intensiver und beeindruckender. Eine Schlafmaske nehmen Besucherinnen und Besucher oft als Fremdkörper wahr und empfinden das Tragen eines solchen Hilfsmittels auf die Dauer auch als unangenehm. Außerdem ist die Versuchung groß, die Maske zwischendurch abzunehmen oder heimlich daran vorbei zu linsen, womit man sich um das Erlebnis bringt. Die Erfahrung, der Dunkelheit ausgeliefert zu sein, geht mit einer Schlafmaske verloren. Ich selbst habe mich immer für die zweite Möglichkeit entschieden.

Da einen das Verdunkeln einer Kirche vor einige organisatorische Herausforderungen stellt, möchte ich hier ein paar hoffentlich hilfreiche Tipps weitergeben.

4.1. Der geeignete Gottesdienstraum

Um Kosten und Mühen für die Verdunkelung möglichst gering zu halten, ist die Wahl des Gottesdienstraumes entscheidend. Große Kirchen mit hohen Fenstern stellen einen dabei vor unlösbare Probleme. Kapellen, alte Unterkirchen, Gemeindehäuser mit wenigen Fensterfronten eignen sich dagegen sehr gut. Auch Räume, die von Haus aus dunkler sind, erleichtern die Arbeit. So fand z.B. ein Gottesdienst in einem Kinosaal statt. In jedem Fall sollte man für die Suche nach einem geeigneten Raum genügend Zeit einplanen.

Auch der Termin und die Uhrzeit eines Dunkelgottesdienstes wollen gut überlegt sein. Einen Raum im Sommer zu verdunkeln, ist eine echte Herausforderung. Leichter dagegen ist es im Herbst und im Winter. Legt man den Beginn des Gottesdienstes auf den späten Nachmittag oder frühen Abend, spielt ein entscheidendes Hindernis, die Sonne, keine Rolle mehr.

4.2. Die eingesetzten Materialien

Um einen Raum zu verdunkeln, gibt es viele kreative Wege. Bewährt haben sich dabei schwarze Folien und schwarze Moltontücher. Da die Qualität dieser Materialien oft sehr unterschiedlich ist, sollte man zunächst den Verdunkelungseffekt mit kleinen Proben überprüfen. Folien sind in der Regel etwas günstiger. Sie werden mit einem guten Klebeband am Rahmen der Fenster befestigt. An manchen Stellen muss man vielleicht mit einer doppelten Lage arbeiten. Will man die Folien wiederverwerten, sollte man beim Abbau vorsichtig zu Werke gehen. Sie zerreißen leicht. Folien haben noch einen kleinen Nachteil: Bei Neukauf verströmen sie einen spezifischen Geruch. Hängt man sie rechtzeitig auf und lüftet regelmäßig, minimiert sich dieser Effekt.

Aber auch andere Materialien sind möglich. In einer alten Kirche mit nur wenigen kleinen Fenstern wurde mit vorgeschraubten Holzplatten gearbeitet. Die Verdunkelung war beeindruckend gut. Ich habe bislang erlebt, dass die Küsterinnen und Küster für die Verdunkelung ihrer Gottesdiensträume immer eine Lösung gefunden haben.

4.3. Ein möglicher organisatorischer Ablauf

Mit der Verdunkelung eines Raumes sollte man mindestens zwei Tage vor dem Gottesdienst beginnen. So bleibt genügend Zeit, letzte Lichtquellen zu beseitigen. Zur Überprüfung hält man sich längere Zeit im verdunkelten Raum auf und hält Ausschau nach offenen Stellen. Idealerweise tut man dies zu der Tageszeit, zu der auch der Gottesdienst stattfinden wird.

Der nächste Schritt gilt allen elektronischen Geräten mit Leuchtdioden. Dazu gehören Verstärkeranlagen, Funkmikrofone, Musikinstrumente und Notausgangslampen. Sollte es Ihnen vom Eigentümer oder von der Eigentümerin des Raumes nicht erlaubt werden, die Notausgangslampen zu verdunkeln, sollten Sie über eine andere Räumlichkeit für Ihren Gottesdienst nachdenken.

An dieser Stelle ein Wort zu Sicherheitsbestimmungen. Wie für alle anderen Veranstaltungen im Raum der Kirche sollte man auf verschiedene Notfälle vorbereitet sein. Vorhandene Pläne sind hier einfach an die Situation anzupassen. Sinnvoll ist es, mehrere Personen dauerhaft an den zentralen Lichtschaltern und an den Notausgängen zu platzieren, sodass in entsprechenden Situationen schnell reagiert werden kann.

Bei unseren Dunkelgottesdiensten haben wir noch im letzten Moment über Lautsprecherboxen Mäntel gehängt und leuchtende Lampen von Keyboards mit Pappen bedeckt. Um solche Notfälle zu vermeiden, ist es sinnvoll, sich vorher alle elektronischen Geräte, die zum Einsatz kommen, genauer anzusehen. Eine Rolle schwarzes Klebeband sollte man immer parat haben.

Parallel zur Verdunkelung der Kirche muss man sich Gedanken über die Konstruktion der Schleuse machen. Sie dient als Übergang von beleuchteten Räumen in den verdunkelten Gottesdienstraum. Durch sie verhindert man, dass beim Eintritt der Besucherinnen und Besucher Licht in die Kirche fällt. Auf eine Schleuse sollte man in keinem Fall verzichten. Wie sie allerdings gebaut wird, hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab. Sie sollte allerdings so solide sein, dass sie nicht ins Wanken gerät, wenn Besucher dagegenstoßen. Manchmal haben wir dazu größere Pavillons genutzt, die wir mit schwarzen Tüchern behängt haben. Der Befestigung dieser Tücher muss besondere Aufmerksamkeit gelten, da die Besucher sie beim Eintritt ständig bewegen.

Hat man die Verdunkelung erfolgreich erledigt, sollte man sich um die Bestuhlung im Gottesdienstraum kümmern. Bei festen Bänken kann man natürlich nichts weiter tun; bei transportablen Stühlen lohnt es sich, eine andere Stuhlordnung auszuprobieren. Idealerweise hat man einen Mittelgang, durch den die Besucherinnen und Besucher hineingeführt und dann in je einen Sitzblock nach links und rechts verteilt werden. Für die blinden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es auch eine Hilfe, wenn von der Schleuse aus ein gerader Weg zum Mittelgang führt. Um Kollisionen der blinden Helferinnen und Helfer beim Zurückgehen zu vermeiden, hat man am besten an den Außenseiten noch zwei weitere Gänge.

Erfüllt der Gottesdienstraum diese Bedingungen nicht, muss man deswegen das Projekt eines Dunkelgottesdienstes noch lange nicht aufgeben. In den allermeisten Fällen findet man mit den blinden Ehrenamtlichen eine Lösung.

5. Im Dunkeln ist gut Munkeln – wer macht mit?

Ein Dunkelgottesdienst ist eine wunderbare Chance, sehbehinderte und sehende Menschen zusammenzubringen. Arbeitet man nicht mit Schlafmasken, ist die Mitarbeit von blinden Menschen für das Gelingen eines solchen Projektes notwendig. Für das Hineinführen in den Gottesdienstraum benötigt man dabei mindestens vier Personen. Zum Lesen der Texte werden Menschen mit Blindenschriftkenntnissen gebraucht. Und natürlich sind Musikerinnen und Sänger, die keine Angst davor haben, ohne Noten zu spielen und zu singen, eine Bereicherung für einen Dunkelgottesdienst.

Beim Einsatz von Schlafmasken können diese Aufgaben leicht an Sehende übergeben werden. Das erleichtert zwar die Gestaltung des Gottesdienstes, aber minimiert die inklusiven Aspekte. Führen z.B. blinde Menschen in den Gottesdienstraum, nehmen sehende Besucherinnen und Besucher stärker deren Fähigkeiten wahr. Das gilt natürlich auch für alle anderen blinden Beteiligten.

Beteiligen sich Menschen ohne eine Sehbehinderung am Gottesdienst, sollte man sie in verdunkelten Räumen darauf vorbereiten. Nach meiner Erfahrung ist es gut, ihnen feste Plätze zu geben, von denen aus sie sprechen oder singen können. Für die Verständlichkeit können Funkmikrofone gute Dienste leisten. Haben Sehende den Ehrgeiz, sich im verdunkelten Raum zu bewegen, sollte man im Vorfeld mit ihnen trainieren oder eine blinde Begleitung anbieten.

Falls es an sehbehinderten Helferinnen und Helfern vor Ort fehlt, sind folgende Adressen hilfreich: Dachverband evangelische Blinden- und evangelische Sehbehindertenseelsorge (www.blindenseelsorge.de) und Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband (www.dbsv.org).

6. „Der Duft der Liebe“. Dunkelandacht zum Fachtag des ZfS im Mai 2019

Die folgende Andacht wurde zum Fachtag des Zentrums für Seelsorge am 24. Mai 2019 gehalten. In der verdunkelten Kapelle der Hochschule Hannover wurden vor der Andacht duftende Blumen ausgelegt. Da Gerüche eine starke Wirkung auf Menschen haben, wurde darauf geachtet, dass die Blumen keinen allzu aufdringlichen Geruch hatten.

Vorspiel und Begrüßung

Nach dem Vorspiel von zwei blinden Musikern folgten einleitende Worte zur Andacht. Bei Dunkelgottesdiensten ist es an dieser Stelle notwendig, auf bestimmte Dinge hinzuweisen. Hier ein Textbaustein: Viele von Ihnen sind heute in unsere Kirche gekommen, weil Sie neugierig darauf gewesen sind, wie es ist, in einer verdunkelten Kirche Gottesdienst zu feiern. Und nun sitzen Sie hier und überlegen: Was mache ich bloß, wenn ich einmal hinaus muss? Wenn ich die Dunkelheit nicht aushalte oder ein anderes dringendes Bedürfnis habe?

Wir haben für diesen Fall vorgesorgt. Wenn es so ist, klopfen Sie bitte mit Ihren Fingern auf die Kirchenbank. Unsere sehbehinderten Helfer, die uns hereingeführt haben, werden Ihnen behilflich sein. Klopfen Sie bitte nicht nur einmal, sondern nach einer kleinen Pause noch ein zweites und drittes Mal, damit Sie gefunden werden können.

Auf den Einsatz von Lichtquellen durch Handys oder Taschenlampen bitten wir zu verzichten, damit wir alle das Erlebnis dieses Gottesdienstes im Dunkeln genießen können und die intensive Vorarbeit dafür nicht umsonst gewesen ist.

Lied: Preisen lasst uns Gott, den Herrn

Lieder sind nicht nur für einen „normalen“ Gottesdienst wichtig, bei Gottesdiensten im Dunkeln spielen sie eine entscheidende Rolle, da Musik in der Regel intensiv wahrgenommen wird. Wie oben schon angemerkt, beschäftigen sich viele Besucherinnen und Besucher mit der Frage, was man denn singen kann, wenn man nichts sieht. Die Antwort könnte aus meiner Sicht heißen: alles, was auch bei anderen Gottesdiensten gesungen wird. Für Blinde ist dies die übliche Erfahrung in Gottesdiensten, dass sie ohne Liedblatt und ohne Gesangbuch mitsingen müssen.

Manche Lieder eignen sich besser als andere, wenn man keinen Text hat. Dazu gehören einfache Gospels, Lieder mit Vor- und Nachsängerin oder -sänger, Gesänge, die nur aus einem Satz bestehen und Kanons. Natürlich kann man auch alte und neue Choräle gemeinsam singen. Dabei stoppt man dann nach jeder Strophe und liest den neuen Vers vor.

Psalm 98 mit Zwischengesang und Gebet

Bei Psalmen kann man gut mit Vor- und Nachsprechen arbeiten. Hat man zwei Vorsprecherinnen oder -sprecher, kann man die Gemeinde teilen. Am Fachtag haben Frauen und Männer wechselseitig den Psalm 98 gebetet. Zwischen den Psalmabschnitten wurde das Lied „Halleluja“ (FT 68) gesungen.

Biblische Textparaphrasen zum Thema Geruch mit musikalischer Untermalung

Musikalische Untermalung von biblischen Texten ist Geschmackssache. Meine Erfahrungen sind hier eher positiv. Blinde Menschen reagieren feinfühlig auf Höreindrücke. Das gilt auch für Menschen in einer dunklen Kirche. Biblische und andere Texte können in ihrer Aussage durch eine passende Musik unterstützt werden.

Lied: Lobe den Herrn, meine Seele (als Kanon)

Kanons eignen sich hervorragend zum Singen in Dunkelgottesdiensten. Dabei gilt es, folgendes zu beachten: Die Gruppen müssen zum einen hörbar eingeteilt werden. Die Leiterin oder der Leiter begibt sich dabei in die Nähe der Gruppe, schnipst oder klatscht, damit die jeweiligen Besucherinnen und Besucher genau hören, mit wem sie gemeinsam singen sollen. Kurz vor dem Ende klatscht die Leiterin oder der Leiter in die Hände. Damit wird signalisiert, dass der Kanon zu Ende ist und die Gemeinde ihren letzten Ton halten soll. Diese Methode funktioniert auch sehr gut bei Tageslicht.

Kurzpredigt „Duft der Liebe“

Dunkelgottesdienste können ganz normale Gottesdienste mit normaler Liturgie und den Texten der Perikopenordnung sein. Meiner Meinung nach lohnt es sich aber, auch schwerpunktmäßig auf die Themen Inklusion und Behinderung einzugehen. Reizvoll erscheint mir dabei, sich von der Alltagswelt sehbehinderter Menschen anregen zu lassen. So kann man thematisch z.B. die Sinne Hören, Riechen und Fühlen behandeln und wird dabei feststellen, dass es genügend biblische Grundlagen dafür gibt.

Predigttext am Fachtag war ein Vers aus dem 2. Korintherbrief: Denn wir sind für Gott ein Wohlgeruch Christi unter denen, die gerettet werden, und unter denen, die verloren werden (2. Korinther 2,15). Auf den Duft der ausgelegten Blumen wurde dabei eingegangen. Die Blumen wurden am Ende an die Besucherinnen und Besucher verteilt.

Lied: Halte deine Hand über mir (FT 98)

Diesem Lied liegt das Schema „Call and Response“ zu Grunde. Eine Vorsängerin oder ein Vorsänger singt eine Textzeile vor, die Gemeinde singt sie nach. Der Vorteil dabei ist, dass man den Gesang nicht durch gesprochene Texte unterbrechen muss.

Fürbitten und Vaterunser

Beim Fachtag haben die Beteiligten an den Fürbitten von ihren Plätzen aus gesprochen. Das ist, wie schon erläutert, nicht nur eine Erleichterung für die Sprecherinnen und Sprecher, sondern auf diese Weise kommt der Klang der Gemeinde in der Kirche gut zur Geltung.

Eine Kerze wird entzündet

Ein intensiver Moment in einem Dunkelgottesdienst ist das Entzünden einer Kerze. Die Reaktionen der Besucherinnen und Besucher darauf sind meistens sehr emotional. Sie staunen darüber, wie ein kleines Licht eine ganze Kirche beleuchten kann. Für mich ist das Entzünden einer Kerze am Schluss eines Dunkelgottesdienstes ein theologisches Statement: Gottes Licht leuchtet auch mitten in die Dunkelheit.

Wenn es geht, sollte man kein zusätzliches Licht beim Hinausgehen der Gottesdienstbesucherinnen und -Besucher einschalten. So erhält sich die Wirkung der brennenden Kerze bis zum Schluss. Hat man Schlafmasken genutzt, wäre es an dieser Stelle gut, die Masken wieder abzunehmen.

Segen und Lied: Verleih uns Frieden gnädiglich (FT 190)

Das Hinausgehen der Besucher und Besucher muss, wenn zum Abschluss eine Kerze oder ein Licht brennt, nicht mehr organisiert werden. Das ist eine Erleichterung für alle.

7. Was noch zu sagen ist

Dunkelgottesdienste haben eine große mediale Außenwirkung. Das sollte man im Interesse von Sehbehinderten und Blinden nutzen und über ihre Lebenswirklichkeit informieren. Auch die Arbeit einer Kirchengemeinde oder eines Kirchenkreises für die Inklusion lässt sich an Hand eines solchen Projektes gut darstellen. Journalistinnen und Journalisten sind in der Regel an dieser besonderen Form des Gottesdienstes sehr interessiert. Für Fotos sollte man sich schon im Vorfeld gute Motive überlegen – eine vollständig verdunkelte Kirche ist auf einem Foto kaum darzustellen, da Fotografierversuche mit Blitzlicht das Erlebnis für die Besucherinnen und Besucher zerstören würden.

Die Planung eines Dunkelgottesdienstes erfordert einiges an Zeit, doch es lohnt sich in jeder Hinsicht. Für die Besucherinnen und Besucher wird es ein sehr eindrückliches Erlebnis sein. Die Reaktionen, die ich auf die Gottesdienste erfahren habe, sprechen hier jedenfalls eine sehr eindeutige Sprache.