Das Herz wird nicht dement. Inkludierendes Verhalten gegenüber demenziell Erkrankten
Anita Christians-Albrecht
Fragt man Menschen in Deutschland, wovor sie am meisten Angst haben, dann steht Demenz, so haben es Umfragen ergeben, ganz oben. In der Öffentlichkeit dominieren meist die „aktiven Alten“: reiselustige Pensionäre, engagierte Freiwillige, Omas und Opas, die mit ihren Enkeln Computer spielen. Die anderen sind in unserer Gesellschaft mehr oder weniger unsichtbar. Vom körperlichen und geistigen Verfall will man am liebsten gar nichts hören und sehen und erst recht nicht von Menschen, die nicht mehr wissen, wer sie sind. Das macht Angst. Und so wird über Demenz auch nicht so richtig offen geredet. Der Krankheit haftet ein Stigma an, auch wenn sie, analog etwa zu Herzerkrankungen, eine organische Krankheit ist, die mit Eiweißablagerungen und Synapsen-Verbindungen im Gehirn zu tun hat. Diese Krankheit sei eine große Kränkung, hat es einmal ein Betroffener formuliert.
Dabei hat Demenz Zukunft. Schon heute ist jede dritte Familie in irgendeiner Form von Demenz betroffen. In Deutschland leben im Moment rund 1,5 Millionen Menschen mit einer der verschiedenen Demenz-Erkrankungen. Für 2050 rechnet die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft mit einer Verdoppelung, also drei Millionen Erkrankten. Der Grund ist, dass wir Menschen immer älter werden. Die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, steigt nach dem 65. Lebensjahr rasant. Und weil Frauen eine höhere Lebenserwartung haben, sind sie häufiger betroffen als Männer.
Mit einem Anteil von 60 Prozent ist die Alzheimer-Demenz die am häufigsten auftretende Form von Demenz. Die zweithäufigste ist die vaskuläre Demenz (15 Prozent). Der Name geht auf das lateinische Wort „vasculum“ zurück, dies bedeutet „kleines Gefäß“. Früher nannte man die Krankheit Hirnarteriensklerose oder, im Volksmund, Verkalkung. Sie wird durch einen oder mehrere Schlaganfälle ausgelöst, durch die Blockierung der Blutzufuhr zum Gehirn. Während die Alzheimer-Demenz allmählich fortschreitet, kann die vaskuläre Demenz plötzlich auftreten und wechsel- oder stufenweise verlaufen.
Die Grenze zwischen Alterszerstreutheit und Demenz ist häufig schwierig auszumachen. Aber keine Angst: Eine leichte Vergesslichkeit im Alter ist normal. Typische erste Anzeichen für Demenz sind dagegen beispielsweise massive Wortfindungsstörungen oder das Nichterkennen eigentlich vertrauter Personen, Gegenstände und Orte. Man spürt, dass das, was eigentlich ganz einfach ist und was man immer gemacht hat, auf einmal nicht mehr geht und dass andere das auch merken und entsprechend reagieren.
Ein Demenzerkrankter drückte es so aus: „Mein Leben findet mittlerweile an einem fremden Ort statt, wo ich mich nicht auskenne.“
Was bedeutet die Diagnose?
Demenz ist keine Geisteskrankheit. Aber vieles geht verloren: das Erinnerungs- und Denkvermögen; das Wissen, wie Dinge zu tun sind; die Fähigkeit, sich sprachlich mitzuteilen; die Orientierung zu Zeit, Raum, Situation und Person; die Fähigkeit, Gesprochenes zu verstehen; die Kontrolle über die Gefühle.
Was passiert?
Führen wir uns am Beispiel von Gerda Meyer (fiktiver Name) einmal den typischen Lebenslauf einen Menschen in unseren Gemeinden oder Einrichtungen vor Augen, wird das deutlich:
Geburt – Kindergarten – Kindheit auf dem Dorf mit drei Geschwistern – Eltern Bauernhof – Kindergottesdienst – Schule – Konfirmandenunterricht und Konfirmation – Jugendgruppe – erste Liebe – Ausbildung oder Studium – Kennenlernen des Ehepartners – Arbeit – Heirat – Geburt des ersten Kindes – Arbeit oder Familienzeit – Geburt des zweiten Kindes – Arbeit oder Familienzeit – Silberhochzeit – Geburt der Enkelkinder – Ehrenamt – Rente – Reisen – Goldene Hochzeit – Pflegebedürftigkeit
Bei einer Demenzerkrankung ist davon auszugehen, dass das, was etwa nach dem 25. Lebensjahr erlebt wurde (also das im Lebenslauf kursiv Markierte), nicht mehr verfügbar ist. „Nach unserer Meinung löschte Mutter gewissermaßen mit einem Radiergummi die lange Linie ihres 80-jährigen Lebens allmählich aus und kehrte zu ihren zehner Jahren oder zu dem Anfang ihrer zwanziger Jahre zurück“, beschreibt es eine Angehörige.
Margaret Forster berichtet in ihrem Roman „Ich glaube, ich fahre in die Highlands“ (1992): „Grandma kann sich nicht erinnern, was sie vor einer Stunde zu Mittag gegessen hat, aber sie erinnert sich bis ins letzte Detail an das, was sie in den 20er Jahren während ihrer Zugfahrten in die Highlands gegessen hat. Und das macht sie glücklich.“
Immer wieder werden wir in der Begegnung mit Demenzkranken in die Vergangenheit geführt, zum Bäcker, der bereits 1954 sein Geschäft aufgegeben hat, zum Arzt, der nur bis in die 1960er praktizierte. Und vielleicht haben Sie es auch schon erlebt, dass Sie bei einem Besuch nach dem Befinden von Pastor XY gefragt wurden, der schon lange nicht mehr lebte – er war derjenige, der die/den Besuchte*n vor vielen Jahren konfirmiert hatte.
Was lange intakt bleibt, ist das sogenannte Altgedächtnis. Dort sind Erfahrungen aus den frühen Jahren gespeichert: Informationen über das Dorf, in dem man geboren wurde, über Eltern und Geschwister, die Schule, Freundinnen und Freunde, das Kirchenleben und das, was man an Texten, Gedichten, Gebeten und Liedern auswendig gelernt hat. Man muss sich wundern, wie klar und genau diese Erinnerungen sind.
Über dieses Wissen hinaus ist es wichtig, sich immer wieder deutlich zu machen, dass Menschen mit Demenz wohl kognitive Fähigkeiten verlieren, aber selbstverständlich auch weiterhin die Bedürfnisse haben, die sie mit allen anderen Menschen teilen: das Bedürfnis nach Trost, nach Einbeziehung, nach Beschäftigung, nach Identität (jemand zu sein), nach Bindung und Sicherheit, nach Geborgenheit, Liebe, Zuwendung, Anerkennung und Achtung.
Was bleibt und wo man anknüpfen kann, das sind natürlich auch die Gefühle. Demenzerkrankte haben z.B. ein untrügliches Gespür für Atmosphäre. Sie merken, ob jemand wirklich an ihnen interessiert ist oder nur so tut. Und hinter vielen von außen betrachtet seltsamen Handlungsweisen steckt ein Gefühl: Ein demenzkranker Mensch mag in einer anderen Welt leben, die nicht der Realität entspricht. Seine Gefühle aber sind real.
Wenn etwa eine 90-Jährige zu ihrer Mama will, braucht sie meistens Nähe und Geborgenheit. Bestimmte Handbewegungen deuten vielleicht auf den früheren Beruf hin: „Na, Herr Müller, sind Sie wieder fleißig?“ Aggressivität bedeutet oft: Ich bin überfordert, ich habe Angst – gerade bei Kriegskindern. Ich fühle mich bevormundet oder kritisiert, auch das kann Aggressivität ausdrücken. Das Herz wird nicht dement. Wenn man sich diesen Grundsatz merkt, ist schon viel gewonnen.
Wie lassen sich Brücken bauen?
Wie kann nun inkludierendes Verhalten gegenüber dementiell veränderten Menschen aussehen? Wie kann man eine Brücke bauen? Einige wichtige Aspekte aus der Diskussion im Rahmen eines Erlebnisparcours während des Fachtages fasse ich hier zusammen.
- Die drei großen A beachten: Atmen (sich selbst auf die Begegnung konzentrieren), Ansprechen mit dem Namen, Ansehen,
- validieren: Neben einer wertschätzenden und empathischen Grundhaltung bedeutet Validation (validare = für gültig erklären), die Realität des anderen zu akzeptieren, anstatt ihn zu korrigieren oder zurechtzuweisen oder über das, was „stimmt“ zu diskutieren,
- Zuwendung zeigen durch Berührung, Sprachrhythmus, freundliche Ansprache,
- Zeit und Geduld mitbringen: Wer auf Krücken geht, ist auf Geduld angewiesen; ein Demenzkranker, der versucht zu reden, ist es auch.
- Nicht zu viele Worte machen (oder: nicht allzu schlau daherkommen) und präzise sprechen. „Steig bitte ins Auto“ ist besser als „Wir müssen jetzt los.“
- nonverbale Kommunikation nutzen,
- Gefühle ernst nehmen und verbalisieren: Welches Gefühl steckt hinter dem Verhalten der oder des Kranken? Wie kann ich zum Ausdruck bringen, dass ich dieses Gefühl wahrnehme: „Sie sind ja ganz aufgeregt“ oder „Jetzt sind Sie aber wütend“. Verbalisiertes verliert oft an Druck.
- W-Fragen und Fragen nach aktuellen Ereignissen („Was gab es denn heute bei Ihnen zum Mittagessen?“) und damit Beschämung vermeiden,
- an das Altgedächtnis und an die frühe Biografie anknüpfen (Mädchenname, Geschwister, Jugenderlebnisse …),
- Gebete und Sprichwörter nutzen: Man kann es oft erleben, dass Patientinnen und Patienten hier mitsprechen oder einstimmen, auch wenn sie eigentlich schon lange nicht mehr sprechen.
- Musik und Gesang fördern: Bei bekannten Liedern fangen selbst sehr in sich zurückgezogene Patientinnen und Patienten oft an, sich im Takt der Musik zu wiegen, zu summen oder zu singen.
- Humor bewahren: Lachen nimmt allen, zumindest für einen Augenblick, die Last von den Schultern. Man hat sozusagen Kurzferien vom Betroffensein. Und auch bei Patientinnen und Patienten mit Demenz bleibt die Freude am Komischen erstaunlich lange erhalten. Das beweisen die sogenannten Geri-Clowns. Die Tatsache, dass der Humor nicht nur auf eine Gehirnregion begrenzt ist, macht ihn sozusagen alters-resistent.
Das Wichtigste ist, die Situation zu akzeptieren. Jemandem mit einem gebrochenen Arm macht man ja auch keinen Vorwurf, dass er in der Bewegung eingeschränkt ist. Demenz ist kein Versagen der Persönlichkeit, sondern das Resultat biologischer oder biochemischer Veränderungen. Die Krankheit bestimmt das Verhalten. Demenzerkrankte sind nicht absichtlich verletzend oder anstrengend. Sie meinen es nicht persönlich. Wenn man sich das klar macht, ist schon viel gewonnen.
Insgesamt gilt: Der Mensch mit Demenz kann nicht mehr zurück in unsere so genannte normale Welt, aber wir können in die seine mit eintauchen. Demenz ist eine fortschreitende Erkrankung. Man kann die Krankheit nicht aufhalten. Aber wenn man den Betroffenen in jedem Stadium mit Respekt begegnet, erweist man ihnen einen großen Dienst, schenkt ihnen Geborgenheit, Trost und Würde.