„Es geht um das subjektive Gefühl“

Nachricht 18. März 2021

Trauer in Zeiten der Pandemie ist oft mit Schuldgefühlen verbunden

Pastor Achim Blackstein

Achim Blackstein vom Zentrum für Seelsorge und Beratung moderiert das Webinar „Trauerarbeit – vom Umgang mit dem Tod in einem prallen Leben“. Der landeskirchliche Beauftragte für Digitale Seelsorge und Beratung sprach dazu mit der Böhme-Zeitung über das Trauern in Zeiten der Pandemie.

Trauert man in Zeiten von Corona anders? Muss man anders trauern?

Achim Blackstein: Viele Menschen können wegen Corona nicht richtig Abschied von der oder dem Verstorbenen nehmen und auch den letzten Schritt nicht mitgehen. Sie sind auf dem Friedhof nicht mit dabei, sehen nicht, wie der Sarg oder die Urne in die Erde gelassen wird. Sie können nicht bei der Trauerfeier dabei sein, egal, ob sie jetzt kirchlich ist oder nicht. Und das fehlt. Diese eigene Wirksamkeit: Ich kann etwas tun, um meiner Trauer Ausdruck zu verleihen, ist nur eingeschränkt möglich. Das macht einen großen Unterschied aus.

Wie wirkt sich dieser Unterschied aus?

Darüber werden wir in dem Webinar auch sprechen: Was macht das mit uns, wenn wir uns nicht kümmern konnten. Uns nicht im Krankenhaus oder Altenheim verabschieden konnten. Bei vielen Menschen kann das Schuldgefühle auslösen: Ich hätte mich gerne selbst verabschiedet, hoffentlich hat er mir das nicht übel genommen. Die Frage, habe ich alles getan, was ich hätte tun können, quält und macht ein schlechtes Gewissen.

Gibt es Wege, mit diesen Schuldgefühlen umzugehen?

Erst einmal ist es wichtig, sich selber einzugestehen, dass diese Gefühle da sind, dass sie einen quälen. Und auch darüber sprechen mit anderen Menschen: Es tut mir Leid, selbst wenn ich gar nicht Schuld habe und es sich gar nicht um ein wirkliches Versäumnis handelt. Das Sprechen tut trotzdem gut, denn damit werde ich es los.

Schuldgefühle haben ja nicht zwingend mit objektiver Schuld zu tun. Es geht ja um das subjektive Gefühl.

Genau. Manche Menschen sind ja ihre inneren Kritiker, die sich selbst sagen: Ach, hättest du mal noch dieses oder jenes getan. Dabei gibt es de facto nichts, was man versäumt hätte. Dennoch wird man dieses Gefühl nicht los. Ich kann es aber zumindest mindern, indem ich es mir angucke und vor mir selbst zugebe, dass ich es spüre und es dann mit jemandem bespreche. Manchmal hilft es, mit einer oder einem Außenstehenden zu sprechen, beispielsweise einer Seelsorgerin, einem Seelsorger. Manchmal hilft es, das Gespräch mit den Angehörigen zu suchen. Und manchmal hilft beides.

Was kann noch helfen, was kann man noch tun, außer zu reden?

Man kann auch Rituale ins Spiel bringen, tatsächlich losgehen zum Friedhof, mit jemandem aus der Familie oder allein. Vielleicht schreibt man einen Brief und vergräbt ihn im Grab. Vor Corona hat man das oft mit Kindern gemacht, wenn diese zur Beerdigung nicht mitwollten oder sollten. Dass sie selbst eine Blume ausgesucht oder ein Bild gemalt und das dann zum Grab gebracht haben: Das ist jetzt meins, und ich hinterlasse ein Stück von mir dort.

Corona hat weite Teile des gesellschaftlichen Lebens in den digitalen Bereich verlagert. Gilt das auch für die Trauer? Kann man auch in den sozialen Medien trauern?

Ja, ganz stark sogar. Viele Menschen laden da ihre Trauer ab. Indem man in den sozialen Kanälen berichtet, wie man eine Corona-Infektion erlebt oder überlebt. Oder wie ein enger Angehöriger es eben nicht geschafft hat. Ich erlebe das vor allem auf Twitter, ein wenig auch auf Facebook. Zwar nicht als Massenphänomen, aber diejenigen, die es dort abladen, formulieren es dort zum Teil sehr stark.

Leisten Sie auch Trauerarbeit in Form von digitaler Seelsorge?

Das auch, ja. Als neue Alternative ist das erst mal absolut positiv. Jeder Weg, über den Trauer zur Sprache kommen kann, ist richtig und gut. Erstmal. Wie im nicht-digitalen Bereich kann man aber auch hier Trauer zementieren.

Eine der Fragen des Webinars lautet: Wie lange darf Trauer dauern? Stellen die bekannten Blasen der sozialen Medien eine besondere Gefahr dar, sich in der Trauer zu verlieren?

Natürlich. Das muss man als Seelsorger*in oder generell als Ansprechpartner*in immer auch im Hinterkopf haben.

Eine andere Frage lautet: Was braucht es, damit Trauer gelingen kann? Zeit ist sicherlich eine Antwort. Dann die Fähigkeit, sie zuzulassen. Was noch?

Ich finde, dass unsere traditionelle Trauerarbeit das gar nicht so schlecht macht. Die Rituale nehmen die Trauer auf und sie nehmen sie ernst. So ein Beerdigungskaffee beispielsweise mag manchmal etwas eigenartige Formen annehmen. Aber es hat sich aus dem Bedürfnis heraus entwickelt, vom Verstorben zu erzählen, sich auszutauschen. Es tut gut, auch in der Trauer zu lachen und sich Anekdoten zu erzählen. Schwarz zu tragen ist ja heute nicht mehr so üblich, und ich will dafür jetzt auch nicht unbedingt eine Lanze brechen. Aber es kann auch wichtig sein, die Trauer kenntlich zu machen. Um der Umwelt zu signalisieren: Ich trauere, auch noch ein halbes Jahr später. Dazu zu stehen, ist hilfreich. Sich selbst ernst zu nehmen und zu sagen: Mir fehlt die Person, das ist ein wichtiger Schritt. Das traditionelle Trauerjahr enthält ja die Botschaft, dass Trauer sich wandelt. Aber sie geht nicht weg. Der Mensch fehlt. Immer.

Das Interview erschien am 16.03.2021 in der Böhme-Zeitung. Das Gespräch mit Achim Blackstein führte Stefan Grönefeld.