Foto: Andrea Hesse

Drinnen oder draußen - eine Frage der Perspektive

Nachricht 28. Mai 2019

Fachtag des ZfS beschäftigt sich mit einer inklusiven Seelsorge

... und wie finde ich einen Stuhl? Foto: Andrea Hesse

„Vieles machen wir in Kirche, Gemeinden und Diakonie gut, aber wir haben sehr viele blinde Flecken.“ Professorin Dr. Hanna Löhmannsröben stellt der Kirche als Institution in der Frage einer inklusiven Seelsorge kein ganz schlechtes Zeugnis aus, weist aber dennoch deutlich darauf hin, dass es an vielen Stellen fehlt. Mit ihrem Vortrag „… und raus bist du! Impulse für eine inklusive Seelsorge“ eröffnet sie den gleichnamigen Fachtag im Zentrum für Seelsorge und bringt verschiedene Perspektiven in die Diskussion ein.  

Löhmannsröben ist Dozentin am Fachbereich Inklusionspädagogik der Universität Potsdam, und sie ist auch Theologin und Religionspädagogin, absolvierte einen Promotionsstudiengang im Fach Sonderpädagogik und hatte einen Lehrstuhl für Heilpädagogik in Berlin inne. „Drinnen sein oder draußen sein – das ist immer eine Frage der Perspektive“, weitet sie den Blick auf das Thema Inklusion. Meistens, so Löhmannsröben, werde das Thema allerdings sehr eng geführt; so ende etwa die Inklusion in allgemein bildenden Schulen aus Gründen der Bequemlichkeit häufig nach der sechsten Klasse.

Immer mehr Partikularsysteme

Die moderne Gesellschaft bestehe aus immer mehr Partikularsystemen, analysiert Löhmannsröben weiter. Es gebe zunehmend weniger Überschneidungen zwischen den Gruppen, dafür aber immer mehr Einzelinteressen: „Eine solche Gesellschaft tut sich schwer mit der Inklusion.“ Die Umsetzung des Inklusionsgedankens, seit 2009 durch die UN-Behindertenrechtskonvention Gesetz in Deutschland, sei konfliktreich und oftmals unbequem, ein „vielgestaltiger, fransiger Prozess“.

Einen blinden Fleck entlarve etwa die gerne gestellte Frage, ob Kirche sich die Ausbildung von Seelsorger*innen für eine inklusive Seelsorge leisten könne, stellt Löhmannsröben fest und verbindet damit die Frage nach dem richtigen Einsatz der Mittel: „Wir müssen über unsere Ressourcen reden.“ Es sei ein schmerzhafter Befund, dass in Überlastungssituationen in den Gemeinden die seelsorglichen Kontakte als erste hintenüber fielen.

Blinde Flecken bei Liedern und Gebeten

Blinde Flecken attestiert Löhmannsröben auch kirchlichen Schriften und Liedern: Das Evangelische Gesangbuch enthalte einen wahren Schatz an Gebeten für alle Lebenslagen, in denen sich Erfahrungen aus Jahrtausenden verdichteten; allerdings komme das Thema Behinderung darin nur mit Blick auf die Geburt eines behinderten Kindes vor. Behinderte Pastorinnen und Pastoren im Dienst der Kirche – auch das ein blinder Fleck.

Große Bedeutung misst Löhmannsröben den Kontextfaktoren von Behinderung bei: „Als Seelsorgerinnen und Seelsorger gehören wir zu diesen Faktoren – wir können behindern oder ‚enthindern‘.“ Sie erinnert an den kirchlichen Kernauftrag, das Evangelium in alle Welt und damit zu allen Menschen zu tragen; folglich auch zu denen, die aufgrund ihres Anders-Seins anders als die Mehrheit angesprochen werden müssen. Löhmannsröben plädiert für eine Ausbildung, in der zukünftige Seelsorger*innen in Kontakt mit Menschen kommen, die eine andere Ansprache brauchen, und sie fordert eine Seelsorge ein, die nicht nur kognitive Bedürfnisse bedient. Schließlich müsse auch das „Gesundbeten“ aus einer allwissenden Perspektive heraus ein Ende haben – Orientierung biete allein Jesu‘ Frage „Was willst du, dass ich dir tun soll?“.

Der Kontext macht den Unterschied

In einem weiteren Impuls während des Fachtages bestätigt Petra Eickhoff-Brummer, landeskirchliche Beauftragte für Systemische Seelsorge am ZfS, die verschiedenen Seelsorgelehren seien keine Vorreiterinnen in der Entwicklung von Praxiskonzepten für die Inklusion. Als Systemikerin benennt sie vier Leitgedanken zur Inklusion: 1. Viabilität (= Gangbarkeit) geht vor Wahrheit. 2. Handle so, dass du die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen erweiterst und lass ihnen dann die Wahl. 3. Der Kontext macht den Unterschied. 4. Eine klare Ressourcen- und Kompetenzorientierung ist unabdingbar.

„Wir müssen die Sprache unseres Gegenübers lernen“, so Eickhoff-Brummer. „Das ist eine große Herausforderung für eine Kirche des Wortes.“ Und, nicht minder wichtig: „Wir brauchen multiprofessionelle Teams.“

In fünf Workshops und einem abschließenden Dunkelgottesdienst können die Teilnehmenden das Fachtages schließlich selbst Erfahrungen machen, die über die rein kognitive Wahrnehmung hinaus gehen: Woran erkenne ich mein Gegenüber, wenn ich weder sehen noch hören kann? Wie kann ich mit ihm in Kontakt kommen? Welche Bilder entstehen im Kopf, wenn ich das Vaterunser gebärde? Werden das Herz und die Gefühle alter Menschen auch dement? Und was wäre ich in dieser stockdunklen Kapelle, gäbe es nicht Menschen, die sich hier zurechtfinden und mich zu meinem Platz führen würden?