Belastungssymptome als Thema der Begleitung durch den PPD
„Belastungssymptome als Zeichen von Identitätskrisen bei kirchlichen Mitarbeitenden“ – unter diesem Titel wurde in der Zeitschrift „Wege zum Menschen“ (68. Jg., Heft 2, S. 142-155, 2016) ein Artikel von Pastor Gert Stührmann veröffentlicht. Grundlage dieses Artikels ist der Jahresbericht 2014 des Pastoralpsychologischen Dienstes (PPD) im Zentrum für Seelsorge der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Seine Erkenntnisse basieren auf Beobachtungen der pastoralpsychologischen Begleitung kirchlicher Mitarbeitender in der Landeskirche.
Belastungen von kirchlichen Mitarbeitenden als durchgehendes Thema pastoralpsychologischer Begleitung zeigen sich auf unterschiedlichen Ebenen und führen zu starken Verunsicherungen. Der Artikel beschreibt diese unterschiedlichen Ebenen und versucht gleichzeitig, Möglichkeiten aufzuzeigen, um mehr Sicherheit zu gewinnen.
1. Kirche in der spätmodernen Gesellschaft – gesellschaftliche Identitätskrise
In einem ersten Abschnitt beschreibt der Autor den gesellschaftlichen Rahmen, in dem sich die Belastungen und die damit verbundenen Verunsicherungen wiederfinden. Als bekanntes Kennzeichen der spätmodernen Gesellschaft wird die Individualisierung genannt, aber auch, dass die Menschen in ihr institutionsmüde und -kritisch, mitunter sogar institutionsfeindlich sind. Das betrifft auch die Institution Kirche. Als weitere Merkmale werden die Fragmentierung von Zeit und Lebensentwürfen beschrieben sowie Patchwork-Identitäten.
Die „Ökonomisierung“ der Gesellschaft greift auf die Organisation Kirche über. Wichtig ist es dem Autor, dass die Organisation Kirche und in ihr auch jedes einzelne Mitglied Teil dieser Entwicklung innerhalb der Gesellschaft ist. Die Gefahr ist, sich in der Kirche als ein Gegenüber zu verstehen, um von der Verunsicherung auch innerhalb der Gesellschaft nicht ergriffen zu werden. Es droht die Entidentifikation mit der Gesellschaft. Es gilt, sowohl die Kirche als auch deren Mitglieder und damit auch die Mitarbeitenden als Teil dieser spätmodernen Gesellschaft zu begreifen, um Antworten auf die Herausforderungen zu finden und aus der Verunsicherung zu mehr Sicherheit zu gelangen. Die Verunsicherung als Identitätskrise zu beschreiben, zieht sich durch die verschiedenen Ebenen dieses Artikels hindurch.
2. Kirche in Veränderungsprozessen – institutionelle Identitätskrise
In einem zweiten Abschnitt wendet sich Gert Stührmann den ständigen Veränderungsprozessen zu, mit denen die Kirchen und Kirchengemeinden befasst sind. Diese Veränderungsprozesse führen zu einer institutionellen Verunsicherung, die ebenfalls als Identitätskrise bezeichnet werden kann. Auch hier sind die Kennzeichen klar zu beschreiben. Der Mitgliederschwund in den Kirchen hat weniger Finanzmittel zur Folge. Einsparungen sind notwendig, die zu Stellenkürzungen führen. Eine enge Zusammenarbeit auf regionaler Ebene sowie Fusionen von Kirchengemeinden werden notwendig. Auch in der Kirche hält die „Ökonomisierung“, die schon in der Gesellschaft zu beobachten ist, Einzug – es muss alles so effektiv wie möglich gestaltet werden, um das inhaltliche Angebot in gewohntem Umfang aufrecht zu erhalten. In der Konsequenz steigen die Belastungen, als Reaktion zeigen sich Verlust- wie auch Existenzängste sowohl auf personaler wie auch auf institutioneller Ebene. Es geht dabei um ein Abschiednehmen von Liebgewordenem und Identitätsstiftendem. Auf beiden Ebenen zeigen sich in der Folge die gleichen Widerstände wie bei Trauerprozessen.
Deutlich wird in dem Artikel die Gefahr benannt: Um den Abschied zu vermeiden, verharren Mitarbeitende wie Kirchengemeinden im Widerstand gegen Veränderungsprozesse. Damit droht eine „innere Kündigung“ gegenüber der Institution, die Entidentifikation von der Kirche. Notwendig, so Gert Stührmann, ist eine behutsame Begleitung in den Trauerprozessen, damit etwas Neues gefunden wird, für das es sich lohnt, sich zu engagieren.
3. Kirche und ihr Bedeutungsverlust – berufliche Identitätskrise
Die Beobachtungen in der pastoralpsychologischen Begleitung von kirchlichen Mitarbeitenden gehen noch tiefer – die Veränderungsprozesse, die auf dem Mitgliederverlust basieren, führen nahezu zwangsläufig zu einer beruflichen Identitätskrise. Denn die Kirche ist, wie andere Institutionen in der spätmodernen Gesellschaft, nicht unhinterfragbar. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass man einen Pastor oder eine Pastorin braucht. Eine allgemein verbindliche Basis von Glaubenswissen geht mehr und mehr verloren, christliche Rituale sind nicht selbstverständlich, religiöse Patchwork-Identitäten führen dazu, dass sich Kirche auf dem „religiösen Markt“ behaupten muss, kirchliche Mitarbeitende müssen sich einer vielfältigen Ausdifferenzierung von Erwartungen und Bedürfnissen der Gemeindeglieder stellen. Damit kommt es nicht nur zur quantitativen, sondern vor allem zu einer qualitativen Verdichtung der Arbeitsbelastung. Mitarbeitende reagieren darauf mit Rollenunsicherheit, es kommt zu inneren Ambivalenzkonflikten.
Regressiver Rückzug, aggressive Flucht oder auch depressive Anpassung – mit diesen Stichworten beschreibt Gert Stührmann zu beobachtende Reaktionen auf diese Konflikte. Die Gefahr ist auch hier der Verlust der Identifikation mit dem Berufsbild des Pastors und der Pastorin. Der „Eros“, die Begeisterung, geht verloren; der Beruf gleicht einem Angestelltenverhältnis. Um aus dieser Krise heraus zu kommen, kommt es darauf an, in einem Prozess des Selbstmanagements die Balance zwischen Rollenanforderung und Rollenangebot zu finden und damit wieder eine Rollensicherheit zu gewinnen.
4. Kirche in einer Glaubenskrise – religiöse Identitätskrise
Der Bedeutungsverlust der Kirche führt schließlich auch in eine religiöse Krise, da er aufgrund der Infragestellung von außen auch zu einer Infragestellung des eigenen Glaubens führt. Es wird deutlich, dass die in diesem Artikel unterschiedenen Ebenen sich gegenseitig bedingen. Denn gerade auf dieser Ebene zeigt sich, dass kirchliche Mitarbeitende und ihr soziales Umfeld selbst Teil der spätmodernen Gesellschaft sind. Das führt sie in ein Spannungsfeld von Glaubensgewissheit und Glaubenszweifel, von Ohnmachtsgefühlen und Größenphantasien. Die Sinnhaftigkeit und die Tragfähigkeit des eigenen Glaubens werden von außen wie von innen in Frage gestellt. Dies äußert sich in depressiver Verstimmtheit oder aber auch in Hyperaktivität.
Die Botschaft selbst wird nicht mehr richtig ernst genommen, der eigene Zweifel führt zu einer Art Schamgefühl. Die Angst vor dem Bedeutungsverlust der Botschaft des Glaubens führt in eine Krise der Glaubensidentität, die Authentizität des eigenen Glaubens ist in Gefahr. Die Verbindung des Glaubens mit der Relevanz für die Realität droht, zerstört zu werden. Es bedarf der neuen Vergewisserung im eigenen Glauben. Kollegiale Gruppen können dazu einen Schutz- und Spielraum bieten. Gert Stührmann beschreibt die Vergewisserung als einen Prozess, den Glauben als gutes inneres Objekt zu integrieren. Die wiedergewonnene Gewissheit im Glauben ermöglicht es, die eigene Rolle in der veränderten Realität neu zu gestalten.