Krieg, Suizid, Geldsorgen und Einsamkeit

Nachricht 12. Juli 2022

Ehrenamtlich Mitarbeitende der TelefonSeelsorge hören zu

Foto: Aline Aronsky auf pexels

In einer Nacht Ende Februar begann der militärische Überfall Russlands auf die Ukraine. An den Tag danach erinnert sich Daniel Tietjen vom Zentrum für Seelsorge und Beratung in Hannover noch genau: „Die ehrenamtliche Mitarbeiterin, mit der ich gesprochen habe, war völlig platt. In jedem Gespräch ging es um die Ukraine-Krise, verbunden mit großen Ängsten, Sorgen und Erschütterung“, sagt der landeskirchliche Beauftragte für die Telefonseelsorge und Leiter der TelefonSeelsorge Elbe-Weser. 

Die Angst vor dem Krieg, der Tod eines Angehörigen oder Liebeskummer: Die Themen, über die Ratsuchende am Telefon reden möchten, sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Die ehrenamtlich Mitarbeitenden haben immer ein offenes Ohr für sie – ihre Stärke liegt vor allem im Zuhören. Zwar kann nicht jedes Problem direkt am Telefon gelöst werden; aber wer anruft, fühlt sich sofort weniger einsam. Die mehr als 7.700 ehrenamtlichen Mitarbeitenden nehmen sich Zeit für die Anrufenden und behandeln alle Gespräche vertraulich. Nicht einmal ihren Namen müssen die Anrufende nennen; ebenso bleiben auch die Mitarbeitenden am Telefon anonym.

„Wir sind für alle offen“, sagt Tietjen. Welche und ob der oder die Anrufende einer Religionsgemeinschaft angehört, spielt keine Rolle. „Zum Christentum gehört Nächstenliebe genauso wie Toleranz und ein respektvoller Umgang miteinander“, sagt er. Wer die Nummer der TelefonSeelsorge wählt, kann sich deshalb sicher sein: Missioniert wird hier niemand. 

"Manchmal sind wir wie ein Seismograph"

Das Engagement der TelefonSeelsorge ist nicht nur für Ratsuchende hilfreich, sondern für die ganze Gesellschaft. „Manchmal sind wir wie ein Seismograf für gesellschaftliche Entwicklungen. Welche Themen die Menschen aktuell bewegen, merken wir schon sehr früh“, sagt Daniel Tietjen. Daraus ergeben sich immer wieder politische Forderungen: ganz aktuell etwa nach einer gesetzlichen Regelung für die Prävention von Suiziden. 

Menschen beratend und tröstend zur Seite zu stehen, die sich das Leben nehmen wollen: Mit diesem Ziel haben Engagierte die TelefonSeelsorge nach englischem Vorbild vor mehr als sechs Jahrzehnten in Berlin gegründet. Noch heute gehört der Suizid und dessen Vorbeugung zum Alltag der ehrenamtlich Mitarbeitenden. Jede:r 16. Anrufende äußert Gedanken darüber, sich das Leben nehmen zu wollen, knapp ein Prozent redet über konkrete Suizidabsichten. Im Chat oder via Mail, über diese Kanäle kann man die TelefonSeelsorge ebenfalls kontaktieren, taucht das Thema noch häufiger auf. In jeder vierten Mail und in jedem fünften Chat schreiben Ratsuchende über Suizidgedanken. Mehr als die Hälfte der Menschen, die sich via Chat oder Mail melden, sind noch keine 30 Jahre alt.

Einerseits falle es offenbar leichter, über Suizid zu schreiben als zu sprechen, mutmaßt Daniel Tietjen. Andererseits gebe es zu wenig Therapeut:innen mit Kassenzulassung. Wer psychisch erkrankt ist, sucht oftmals Monate nach einem Therapieplatz, dessen Kosten die gesetzliche Krankenkasse trägt. In dieser Zeit geht es vielen Betroffenen zunehmend schlechter. Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sind Suizidgedanken und -impulse häufige Symptome einer Depression. Diese Krankheit lässt sich gut behandeln, so ließen sich Suizide verhindern. Vor diesem Hintergrund fordert die TelefonSeelsorge, deutlich mehr Kassenzulassungen zu vergeben.

Es fehlt an Therapieplätzen

Die Lücke an fehlenden Therapieplätzen könne die TelefonSeelsorge nicht füllen, sagt Daniel Tietjen. Dieser Anspruch überfordere die Mitarbeitenden, auch wenn sie gut ausgebildet sind. Wer in einer TelefonSeelsorgestelle den Hörer abnimmt, hat eine 15 Monate lange Ausbildung im Umfang von 150 Stunden absolviert; der Umgang mit suizidalen Menschen ist dabei ein Kernthema.

Die ehrenamtlich Mitarbeitenden lernen darüber hinaus, dass es während der Telefonate nicht um sie selbst geht, sondern um die Ratsuchenden. Allein gelassen werden sie mit ihrer verantwortungsvollen Aufgabe aber nicht: Nach der Ausbildung gibt es für alle Mitarbeitenden eine regelmäßige Supervision – so haben auch sie jemanden, mit dem oder der sie belastende Themen aus Anrufen besprechen können.

Besonders häufig drehen sich die anonymen Gespräche am Telefon um depressive Stimmungen, körperliche Schmerzen und Einsamkeit. Während der Lockdowns in der Corona-Pandemie fühlten sich noch mehr Menschen alleine – und suchten Rat. Die TelefonSeelsorge reagierte schnell: Sie stellte mehr Leitungen zur Verfügung, die ehrenamtlich Tätigen telefonierten teils in Doppelschichten. Trotzdem übersteigt die Nachfrage das Angebot weiterhin stark: Nur eine:r von 13 Anrufenden kommt gleich beim ersten Versuch durch.

Sorgen um die persönlichen Folgen

Aktuell sei der Ukraine-Krieg in den Gesprächen nicht mehr ganz so präsent, sagt Daniel Tietjen. Mittlerweile drehten sich die Telefonate, Mails und Chats auch um die persönlichen Folgen des Krieges für diejenigen, die in Deutschland leben: finanzielle Unsicherheiten, Gesundheitskosten und politische Fragen. Lösungen für all diese vielfältigen und individuellen Probleme hat die TelefonSeelsorge in der Regel nicht sofort parat, der Anspruch sei aber auch ein anderer, erklärt der landeskirchliche Beauftragte: „Wir haben ein offenes Ohr. Wer bei der TelefonSeelsorge anruft, kann sicher sein: Am anderen Ende der Leitung sitzen Menschen, die ein hohes Interesse haben, für die Anrufenden da zu sein.“ (Quelle: EMA, Sarah Franke)