Mit Blick auf das neue Jahr setzt Bremens leitender evangelischer Theologe Bernd Kuschnerus in der Bewältigung der weltweiten Krisen auf Zusammenhalt und Solidarität. Die habe sich schon in den vergangenen Monaten gezeigt, gerade auch in der Hilfe für die Ukraine, sagte Kuschnerus dem Evangelischen Pressedienst (epd). Gleichzeitig gebe es angesichts der Krisen in der Gesellschaft einen steigenden Bedarf an Seelsorge.
epd: Herr Kuschnerus, wir erleben mit Klimawandel, andauernden Corona-Infektionen, steigenden Energiepreisen, Inflation, wachsender Armut und dem Krieg in der Ukraine gerade eine ganz Reihe tiefgreifender Krisen zur selben Zeit. Bedeutet das auch einen größeren Bedarf an kirchlicher Seelsorge?
Bernd Kuschnerus: Ja, die Seelsorge ist tatsächlich deutlich mehr gefragt. Das spüren wir beispielsweise in der Telefon- und der Krankenhausseelsorge. Am Telefon geht es oft um Einsamkeit, Angst und Depressionen, aber auch ganz allgemein um den Umgang mit den Krisen. In der Altenheim- und Krankenhausseelsorge ist insbesondere der Gesprächsbedarf Pflegender gestiegen. Sie kommen an ihre Belastungsgrenze, aktuell vor allem aufgrund von Personalausfällen durch Krankheit. Da merken wir, dass die Leute in einer Dauerkrise stecken, die sie sehr belastet.
Mehr Seelsorgebedarf könnte mehr Zuspruch zur Institution Kirche bedeuten. Gibt es da einen Zusammenhang?
Man könnte denken, dass die Menschen jetzt wieder in die Kirche eintreten. Aber die Verbindung zwischen Mitgliedschaft und der Absicherung eines kirchlichen Angebotes wird häufig nicht gezogen. Vielerorts wird die Kirche noch als eine Institution wahrgenommen, die ganz selbstverständlich immer da ist, auch ohne dass ein persönlicher Beitrag geleistet wird.
Trotz aller Krisen – der Mensch ist auf Hoffnung und Perspektive ausgerichtet. Wie lässt sich trotz der schwierigen Lage Hoffnung schöpfen?
Hoffnung bedeutet für mich nicht, die rosarote Brille aufzusetzen und zu sagen: Das wird schon irgendwie gut gehen. Hoffnung ist aus meiner Sicht etwas, was mir hilft, realistisch auf die Dinge zu schauen. Tschechiens früherer Staatspräsident Václav Havel hat das mal so formuliert: Hoffnung heißt nicht, es geht gut aus, sondern es macht Sinn, was ich tue, egal wie es ausgeht. Das ist für mich die christliche Sicht auf Hoffnung, denn wir glauben ja an einen Gekreuzigten. Da geht es um eine Liebe, die stärker ist als der Tod, um einen Gott, der Zuversicht schenkt, um die Solidarität jedes Einzelnen. Das kann den Alltag mit Sinn erfüllen. Wenn wir auf die großartige Unterstützung für die Menschen in der Ukraine und für die Geflüchteten hier in Deutschland schauen, leuchtet das ganz unmittelbar ein.
Stichwort Unterstützung: Wie steht es um Solidarität und Zusammenhalt in der Gesellschaft?
Ich glaube, da gibt es gegenläufige Tendenzen. Einerseits sehe ich eine große Solidarität, gerade in der Hilfe für die Ukraine. Und wir erleben mit kirchlich-diakonischen Aktionen wie den „Orten der Wärme“ in Bremen oder dem „Wärmewinter“ in der hannoverschen Landeskirche viele Gemeinden im Aufbruch. Ihnen geht es darum, den ganzen Winter hindurch Menschen mit knappem Geldbeutel zu helfen. Ältere, Studierende, Familien, Alleinerziehende, obdach- und wohnungslose Menschen – diese Gruppen werden mit Engagement und langem Atem unterstützt.
Wie geschieht das?
Da geht es nicht nur darum, Brote oder eine warme Mahlzeit zu verteilen, es gibt auch die Möglichkeit zum Gespräch. Das begeistert mich: Warmherzige Begegnungen, warme Füße und warmes Essen. So können sich Menschen selbstwirksam und auf Augenhöhe erleben, nicht als Almosenempfänger. Das hilft insbesondere gegen die wachsende Vereinsamung, die längst nicht nur Ältere trifft. Es betrifft auch junge Menschen, die sich nach der Phase mit Corona-Einschränkungen zurückgezogen haben und sich nun nicht mehr raustrauen. Da versuchen Gemeinden, durch konkrete Taten Hoffnung zu vermitteln.
Das ist die positive Seite von Solidarität und Zusammenhalt. Und andererseits?
Andererseits lassen es manche Menschen im Krisenstress an Respekt fehlen. So werden Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste beschimpft, sogar körperlich angegriffen. Ich denke, wir tun gut daran, nicht zu Angstbeißern zu werden, sondern zu lernen, die andere oder den anderen zu sehen. Darum geht es auch in der wunderbaren biblischen Jahreslosung für 2023 „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Dieses Wissen, ich bin nicht vergessen, ich werde gesehen, mit meinen Problemen und den Sorgen, die ich habe, ich bin damit nicht alleine – das ist etwas, was wir auch im neuen Jahr dringend brauchen und was wir einander gut vermitteln können: indem wir uns gegenseitig stärken, indem wir uns für das Gute einsetzen und andere Menschen respektieren. Und klar ist doch auch: Im Zusammenhalt lassen sich die Krisen auf jeden Fall besser angehen.
Quelle: epd Nds.-Bremen/ Dieter Sell