„Das ICE-Unglück in Eschede war ein Wendepunkt“

Nachricht 30. Mai 2023

Notfallseelsorge arbeitet in der PSNV heute in enger Vernetzung

Die Katastrophe von Eschede stieß Veränderungen in der Notfallseelsorge an. Foto: Klaus Resch, Die scharfe Linse

Vor 25 Jahren, am 3. Juni 1998, entgleiste der ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ auf der Bahnstrecke von Hannover nach Hamburg und zerschellte an einer Brücke in der Gemeinde Eschede in Niedersachsen. Auslöser für das schwerste Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland waren ein gebrochener Radreifen und menschliches Versagen. In der Folge verloren 101 Menschen ihr Leben, mehr als 100 weitere wurden schwer verletzt. Auswirkungen hatte die Katastrophe auch auf die Notfallseelsorge, wie Pastor Joachim Wittchen, Beauftragter für Notfallseelsorge am Zentrum für Seelsorge und Beratung in Hannover, im Interview erklärt.

War die Katastrophe von Eschede tatsächlich ein Wendepunkt für die Notfallseelsorge?

Erste Notfallseelsorge-Systeme (auch in Niedersachsen) gab es seit Mitte der 90er Jahre. Auch der Begriff „Notfallseelsorge“ wurde in diesen Jahren etabliert. Das ICE-Unglück in Eschede war insofern ein Wendepunkt, als dass in Niedersachsen erstmalig die kirchliche Notfallseelsorge in größerem Umfang öffentlich wahrgenommen wurde. Viele Seelsorger*innen aus dem Kirchenkreis Celle waren in Eschede im Einsatz; andere Seelsorgende wurden hinzugerufen, um zu unterstützen – insofern war diese Katastrophe schon auch ein Wendepunkt. Darüber hinaus rückten nach dem ICE-Unglück neben den Betroffenen auch die Einsatzkräfte und ihre psychische Belastung in den Fokus. 

Was hat sich nach Eschede organisatorisch bzw. strukturell in der Notfallseelsorge geändert?

Notfallseelsorge (als Teil der Psychosozialen Notfallversorgung in Niedersachsen) ist in unserer Landeskirche heute flächendeckend organisiert. Wir haben die Aus- und Fortbildung unserer Seelsorger*innen ausgeweitet, bieten regelmäßig Kurse an. Wir sind mit den Bistümern und anderen Landeskirchen in Niedersachsen gut vernetzt und stehen in regelmäßigem bundesweiten Austausch mit den kirchlichen Kolleg*innen. In der Notfallseelsorge arbeiten wir immer in ökumenischer Verbundenheit. Und dort, wo es in den Landkreisen Kriseninterventionsteams der Hilfsorganisationen gibt, gibt es meist auch eine gute Zusammenarbeit. Um es mit Zahlen zu benennen: Im Jahr 2022 haben wir in unserer Landeskirche 2.188 Einsätze geleistet, die Mehrzahl (rund 80 %) im innerhäuslichen Bereich. In der hannoverschen Landeskirche arbeiteten im vergangenen Jahr 978 Männer und Frauen in der Notfallseelsorge mit, davon 171 als ehrenamtlich Mitarbeitende.

Wäre die Notfallseelsorge heute umfassender als vor 25 Jahren auf eine vergleichbare Katastrophe vorbereitet?

Vorab: Das, was 1998 von allen Einsatzkräften in Eschede geleistet wurde, kann gar nicht genug gewürdigt werden. Natürlich bereiten wir uns heute auch auf sogenannte Großschadenslagen vor. Wir sind in den Systemen vernetzt, unterstützen uns gegenseitig, arbeiten überkonfessionell und auch im Verbund mit den Hilfsorganisationen. Wir haben feste Ansprechpartner*innen auf Ebene der Landkreise, in den Feuerwehren, Rettungsdiensten und Polizeidienststellen. Für all das ist gesorgt.

Aber ob man sich in letzter Konsequenz auf solche Situationen und die damit einhergehenden psychischen und körperlichen Belastungen wirklich innerlich gut vorbereiten kann, das möchte ich bezweifeln.

Sehen Sie die Notwendigkeit für weitere organisatorische oder strukturelle Veränderungen bei der Notfallseelsorge?

Ich sehe die Notwendigkeit, die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) in Niedersachsen sehr grundlegend zu strukturieren. Dazu liegen seit einigen Jahren die Vorschläge auf dem Tisch. Ich sehe die Notwendigkeit, dass, wie in anderen Bundesländern auch, das Land den Rahmen für eine flächendeckende PSNV schafft; dann werden wir als kirchliche Notfallseelsorge unseren Beitrag dazu neu justieren. Im Moment ist es so, dass in den Landkreisen die Ausgangssituation – kommunal und auch kirchlich, völlig unterschiedlich ist; hier sehe ich Optimierungsbedarf. Dafür sind allerdings politische Abstimmungsprozesse notwendig und es braucht einen langen Atem.

Innerkirchlich werden wir überlegen müssen, wie wir unser Engagement in der Notfallseelsorge erhalten – bei sinkenden Zahlen von Mitarbeitenden. Auch bei uns gibt es einen Fachkräftemangel und viele offene Stellen.

Am Zentrum für Seelsorge und Beratung in Hannover haben wir damit begonnen, gemeinsam mit dem Bistum Osnabrück die Ausbildung von ehrenamtlich Mitarbeitenden auszubauen. Das ist eine sehr gewinnbringende Arbeit für alle und ich bin für die Tätigkeit der ehrenamtlich Mitarbeitenden sehr dankbar. Hier werden wir unser Engagement sicher noch verstärken.