Gibt es ein „gutes Leben“ mit Demenz?

Nachricht 28. Juni 2023

Fachtag des ZfSB will Demenzsensibilität und Teilhabe fördern

Die Organisator*innen des Fachtages, Anita Christians-Albrecht (von links), Angela Grimm und Andreas Jensen vom Seelsorgereferat des Kirchenamtes der EKD, freuten sich über rund 100 Teilnehmende in der Kreuzkirche. Foto: Andrea Hesse

„Und morgen treffen wir uns gestern“ – mit diesem Zitat aus einem Buch des Autors und Arztes Dr. Carsten Lekutat eröffnete Direktorin Angela Grimm den Fachtag „Vergissmeinnicht“ des Zentrums für Seelsorge und Beratung (ZfSB) in der hannoverschen Kreuzkirche. Der Fachtag, der in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) angeboten wurde, widmete sich dem Thema Demenz mit dem Ziel, kirchliche Demenzsensibilität zu fördern und Möglichkeiten der Teilhabe für Demenzerkrankte zu erweitern.

Prof. Dr. Torsten Meireis, Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin, rückte in seinem Vortrag ethische Perspektiven in den Fokus. Als prägend für die öffentliche Debatte zum Thema Demenz benannte er, dass allgemein bestritten werde, dass es für Demenzerkrankte ein „gutes Leben“ geben könne. So habe etwa der österreichische Schriftsteller Arno Geiger für die Aussage, sein dementer Vater sei in seiner eigenen Welt noch immer brillant, heftige Kritik geerntet.

"Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft"

„Demenzkranke tragen zur Leistungsbilanz einer Gesellschaft nichts bei, erfordern aber erhebliche Ressourcen“, stellte Meireis fest. Im Jahr 2015 seien dies in Deutschland rund 15 Milliarden Euro gewesen, wobei 75 Prozent aller Erkrankten zu Hause gepflegt wurden. Auf der Kostenseite müssten auch erhebliche psychische und physische Folgeerkrankungen der pflegenden Angehörigen verbucht werden – eine „Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft“, wie Meireis die Dissertation der Soziologin Tine Haubner zitierte.

Auswirkungen habe die Kosten-Nutzen-Betrachtung der Demenz auch auf medizinethische Fragen, so Meireis weiter: „Diese Sichtweise beeinflusst das, was in der Pflege bereitgestellt wird.“ In einer historischen Herleitung blickte der Referent zurück auf eine Schrift, die der Strafrechtler Karl Binding und der Arzt und Psychiater Alfred Hoche 1920 veröffentlicht hatten: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Diese Publikation, die als Wegbereiterin für die NS-Ermordungspolitik gilt, spricht mit Blick auf „unheilbar Blödsinnige“ von „Ballast-Existenzen“ und einem geistigen Niveau, wie es sich ansonsten „tief unten in der Tierwelt“ finde. Das Töten dieser Menschen verlange keine Rechenschaft, da sie für die Gesellschaft nur Ballast und nicht zur Erkenntnis ihres Leidens in der Lage seien. Heute hingegen, so Meireis, baue die „Ethik des guten Lebens“ auf dem erlebten Glück auf, das wiederum die Fähigkeit zur geistigen Erfassung dieses Glücks voraussetze.

Effizienzimperativ ist eine hohe Hürde

Hohe Hindernisse auf dem Weg zu mehr Demenzsensibilität und Teilhabe sieht Meireis im Postulat des sich selbst optimierenden Menschen, im allgemein vorherrschenden Optimierungs- und Effizienzimperativ. Auch die Medizin folge diesem Imperativ und vernachlässige Ressourcen wie Empathie und Geduld; hinzu komme die Rationierung von wirksamen Anti-Dementiva aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen.

Im anschließenden Gespräch äußerten mehrere Teilnehmende des Fachtages den Wunsch nach Orientierungshilfe und praktischen Vorbildern für den Umgang mit Demenzerkrankten in Kirchengemeinden, in Einrichtungen und bei Besuchen. Zwei anschließende „Fachspaziergänge“ zu insgesamt sieben Stationen und Workshops kamen diesem Wunsch mit viel Praxisbezug nach; unter anderem unter der Überschrift „Socken im Kühlschrank? Kindern Demenz erklären“.

Impulse für das interreligiöse Gespräch

Impulse für das interreligiöse Gespräch gaben Referent*innen verschiedener religiöser Herkunft: Dr. Maria Kotulek vom Erzbischöflichen Ordinariat München lenkte den Blick auf die Belastungen und Gefühle von Angehörigen, die sowohl im Lernraum „Demenz für Anfänger“ wie auch in der App „DemenzGuide“ im Fokus stehen. Judit Marach von der Liberalen jüdischen Gemeinde Hannover wies auf die im jüdischen Glauben geforderte Fürsorge der Menschen untereinander hin und berichtete von uralten Passagen im Talmud, die bereits eine Verpflichtung gegenüber Demenzkranken formulieren. Ähnlich verwies Dr. Abdul Nasser al-Masri von der Schura Niedersachsen auf Kapitel des Koran zum „Menschen, der, nachdem er gewusst hatte, nichts mehr weiß“.

Melek Şahin von der Alevitischen Gemeinde Deutschland schließlich betonte den Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Menschen und berichtete von Demenzbegleiter*innen, die in vielen alevitischen Gemeinden ausgebildet werden. Zu ihren Aufgaben gehöre neben der Begleitung Erkrankter auch die Seelsorge für Angehörige.

„Es spielt keine Rolle, dass er nicht weiß, dass ich sein Sohn bin. Entscheidend ist, dass ich es weiß“: Mit dieser Aussage eines Angehörigen schloss Anita Christians-Albrecht, Beauftragte für Altenseelsorge im Zentrum für Seelsorge und Beratung und Hauptorganisatorin des Fachtages, zum Ende der Impulse zum interreligiösen Gespräch.

"Sehen, was ist ... machen, was geht"

Im anschließenden Vortrag "Sehen, was ist ... machen, was geht" zeigte Antje Koehler, Religions- und Gemeindepädagogin aus Köln, gangbare Wege zu demenzsensiblen Religionsgemeinschaften auf. Die Teilnehmenden des Fachtages dankten ihr sehr für die praxisnahe Darstellung und die Orientierungshilfe für ihre Suche nach Vorbildern für die eigene Arbeit.