„Man kann zunächst 'nur' da sein“

Nachricht 31. Januar 2023

Ein Interview mit Notfallseelsorger Joachim Wittchen

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Pastor Joachim Wittchen

Pastor Joachim Wittchen ist landeskirchlicher Beauftragter für Notfallseelsorge am Zentrum für Seelsorge und Beratung in Hannover. Im Interview spricht er über den gewaltsamen Tod eines 14-jährigen Jungen in Wunstorf und über das, was jetzt, trotz fehlender Worte zu dem Geschehenen, getan werden kann.

Herr Wittchen, ein 14-Jähriger soll auf brutale Weise einen Mitschüler ermordet haben. Für die Angehörigen des Jungen muss das eine unvorstellbare Katastrophe sein. Wie können Seelsorgerinnen und Seelsorger die Betroffenen in solchen Extremsituationen erreichen?

Man kann für Menschen, die so etwas erleben, zunächst „nur“ da sein. Wie jemand darauf reagiert, das können wir vorher nie wissen, da gibt es die ganze Bandbreite, alle Reaktionen sind denkbar. In so einer Situation ist es wichtig, nicht wegzugehen und die Menschen nicht alleine zu lassen. Das klingt ein bisschen einfach, ist aber das Wesentliche.

Worauf kommt es an?

Die Betroffenen machen oft die Erfahrung, dass andere Menschen einen Bogen um sie machen. Weil die nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. „Ich bin jetzt für Sie da und habe Zeit für Sie“ – dieses  Signal versuchen Seelsorgerinnen und Seelsorger den Angehörigen und Betroffenen zu geben. So sollen die Menschen stabilisiert werden. In der Begleitung von Menschen, die Fürchterliches erlebt haben, geht es um eine Grundhaltung, die fragt: „Was kann ich jetzt für Sie tun?“ Es wäre falsch vorzugeben, was jetzt zu tun ist. Denn als Seelsorgerin oder Seelsorger weiß ich erst einmal gar nichts von den Menschen und ihrer Geschichte. Irgendwann kommt dann ein Gespräch in Gang.

Wie geht es dann weiter?

Dann bekommen die Menschen wieder den Boden unter den Füßen zurück und gehen die ersten kleinen Schritte in ein Leben, das völlig anders ist, als es vorher war. Dann ist es meine Aufgabe als Seelsorger, diese Personen darin zu unterstützen. Ein Beispiel: Wenn es darum geht, Angehörige zu benachrichtigen, unterstütze ich bei diesen Anrufen, indem ich Betroffene ermutige, selbst zu telefonieren. Das nicht an andere abzugeben. Dadurch erleben sich die Menschen wieder als selbstwirksam. Das ist ganz wichtig.

Im weiteren Kreis sind nicht nur Angehörige betroffen, sondern eine Schule und ein ganzes Dorf. Wie finden all diese Menschen zurück in die Normalität?

Erst mal können wir nur für die Menschen da sein, die unsere Begleitung auch möchten und uns anfragen. Ich muss fragen: „Was möchten Sie und was wünschen Sie sich jetzt?“ Blickt man auf eine größere Gemeinschaft, kann zum Beispiel die Kirche das tun, was es an der IGS Wunstorf schon gab: Räume des Gedenkens eröffnen, in denen sich Menschen austauschen können. Oder einen Trauergottesdienst oder eine Andacht veranstalten.

Es geht also darum, Gemeinschaft zu stiften.

Ja. Es geht darum, Räume zu eröffnen, in denen das Unaussprechliche ausgesprochen werden kann, wo man aber auch gemeinsam schweigen darf. Wenn es zum Beispiel Todesfälle an Schulen gibt, wird oft ein Trauerraum eingerichtet. Der hat genau diese Funktion: der Trauer Ausdruck zu geben.

Anfang des Jahres wurde ein Vierjähriger in Barsinghausen mutmaßlich vom Partner seiner Mutter umgebracht. Zeitgleich mit dem grausamen Verbrechen in Wunstorf kam es zur tödlichen Messerattacke in einem Zug in Schleswig-Holstein. Hinzu kommt, dass seit fast einem Jahr Krieg in Europa herrscht. Bei so viel schrecklicher Gewalt zweifelt man an der Menschheit. Wie kann jede und jeder von uns damit umgehen?

Wenn ich selber merke, dass mir etwas zu nahekommt oder zu viel wird, dann muss ich die Befeuerung mit äußeren Botschaften unterbrechen. Es ist legitim, wenn jemand deswegen das Radio oder den Fernseher ausmacht beziehungsweise das Handy ausschaltet, um selbst wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Es hilft immer, mit anderen darüber zu sprechen und sich mitzuteilen.

Wer kann das leisten?

Das müssen keine professionellen Begleiterinnen oder Begleiter sein. Man kann es gegenüber einer anderen Person in Worte fassen und sagen, wie es einem geht. Das hilft, die eigenen Gedanken zu sortieren. Und das hilft auch, damit es wieder besser wird. Trotz der vielen schrecklichen Nachrichten mag es ja trotzdem viele schöne Dinge im eigenen Leben geben. Dann ist es wichtig, sich in einem Gespräch auf diese Dinge zu besinnen. Wenn ich mit Menschen spreche, die etwas Schlimmes erlebt haben, sage ich immer: „Erzählen Sie, was Sie erzählen möchten.“ Ich frage niemanden aus. Aber dann kommt oft der Punkt im Gespräch, an dem ich frage: „Was machen Sie besonders gerne oder was macht Ihnen Freude?“ Dann kann man mit der Person überlegen, ob man das nicht einfach in der nächsten Zeit mal wieder machen sollte. Um die Dinge in den Blick nehmen, auf die man sich freuen kann. Quelle: Manuel Behrens, Neue Presse Hannover