„Emotionen treffen die Menschen mit voller Wucht“

Nachricht 29. September 2023

Hospiztag widmet sich der Begleitung Demenzkranker

Anja Goral (von links), Paul Witkowski, Holger Jahnel, Friederike Busse, Martina Keil, Lisa Szonn und Christoph Gimmler beim letzten Vorbereitungstreffen für den Hospiztag. Foto: Andrea Hesse

„In der Welt des Vergessens – was dennoch bleibt“: Unter diesem Titel steht ein Vortrag, den Prof. Dr. Verena Begemann beim diesjährigen Hospiztag der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers hält. Die Theologin und Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule Hannover gibt darin Impulse für eine würdevolle Sterbebegleitung für Menschen mit Demenz.

Alljährlich richtet sich der landeskirchliche Hospiztag an Personen, die sich ehrenamtlich in der Hospizarbeit engagieren. „Dieser Tag mit inhaltlichen Impulsen und der Möglichkeit zum Austausch ist ein Dankeschön für das große Engagement, mit dem ehrenamtlich Tätige die Hospizarbeit tragen“, sagt Friederike Busse, Beauftragte für Hospiz- und Palliativseelsorge am Zentrum für Seelsorge und Beratung (ZfSB) in Hannover. Gemeinsam mit Paul Witkowski, Referent beim Diakonischen Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen, organisiert sie den Hospiztag, der für viele ehrenamtlich Tätige in ambulanten Hospizdiensten und stationären Einrichtungen ein fester Termin im Jahreskalender ist.

Emotionen bleiben vollständig erhalten

In diesem Jahr wird auch Christoph Gimmler zum Hospiztag kommen und einen „Demenz-Parcours“ mitbringen: „Es geht mir darum, das Vorurteil ‚die merken ja eh nichts mehr‘ gegenüber Demenzkranken zu entkräften“, sagt der Projektkoordinator Demenz im Fachbereich Senioren der Stadt Hannover beim Vorbereitungstreffen im ZfSB. „Bei einer Alzheimer-Erkrankung, unter der etwa 70 Prozent der demenziell Erkrankten leiden, bleiben die Emotionen vollständig erhalten, können aber nicht mehr reflektiert werden. So treffen sie die Menschen mit voller Wucht, und hinzu kommt auch noch die Scham über die eigene Hilfsbedürftigkeit.“

Der Demenzparcours mit seinen 13 Stationen – jeweils vier davon können Teilnehmende des Hospiztages ausprobieren, legt einen Schwerpunkt auf das Fühlen: Wie fühlt es sich an, wenn das Essen zur Herausforderung wird, weil ich nicht mehr mit Messer und Gabel umgehen kann? Wenn die anderen am Tisch immer ungehaltener werden, weil alles so lange dauert und das Tischtuch vor mir schon längst nicht mehr weiß ist? In einer Holzbox lässt es sich ausprobieren: Papierbällchen in Grün, Gelb und Rot symbolisieren Gemüse, Kartoffeln und Fleisch; sie sollen mit Messer und Gabel auf einen Teller bugsiert werden. Was so einfach klingt, ist nur mit viel Geduld und Konzentration zu meistern, da die eigenen Bewegungen nur über einen Spiegel kontrolliert werden können.  

„So wie Ihnen jetzt gerade geht es demenzkranken Menschen 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche“, sagt Christoph Gimmler. „Sie stehen ständig unter dem Stress der Demenz und müssen unglaublich viel Energie aufwenden, um ihre Probleme zu vertuschen.“

Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung

Einen Workshop „Rituale in der Begleitung von Menschen mit Demenz“ bietet Diakonin und Sozialarbeiterin Anja Goral an. „Menschen mit Demenz haben ein großes Bedürfnis nach Vertrautem, nach Sicherheit und Orientierung“, erklärt sie. Rituale, die vertraut sind oder langsam vertraut werden, bieten diese Orientierung – christliche Rituale ebenso wie kleine Alltagsrituale. In ihrem Workshop regt Anja Goral dazu an, sich in der Begleitung demenzkranker Menschen auf Rituale zu besinnen und auszuprobieren, welche im jeweiligen Kontext überliefert und vertraut sind.

„Schon das gemeinsame Singen eines vertrauten Liedes oder das Mitsprechen des Vaterunsers kann ein schönes Erlebnis sein, das ein Gefühl von Sicherheit vermittelt“, sagt Goral. Selbst das vielleicht einfachste und vertrauteste Ritual, das Handreichen, könne für Orientierung sorgen.

Ein Apfel für Schneewittchen

In einem dritten Workshop stellen Holger Jahnel und Rieke Pleuß das Märchenprojekt „Märchen und Demenz“ vor, das sie im Rahmen ihres Studiums der Sozialarbeit und ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit als Demenzbegleiter*in entwickelten. „In diesem Projekt beziehen wir alle Sinne ein – fühlen, hören, schmecken, riechen“, berichtet Holger Jahnel. Beim Märchen Schneewittchen etwa könne es ein Apfel sein, der mit Form, Duft und Geschmack die Geschichte heraufbeschwöre.

„Märchen sind ein weit verbreitetes Kulturgut und viele Menschen erinnern sich an die Märchen ihrer Kindheit oder an die, die sie ihren Kindern und Enkelkindern vorgelesen haben“, so Jahnel. Zudem seien Märchen einfach strukturiert, könnten auf fundamentale Weise menschliche Gefühle ansprechen und ließen sich leicht erzählen. „Wir wollen ehrenamtlich Mitarbeitende darin bestärken, Märchen zu nutzen, um damit eine gemeinsame Kommunikationsebene zu schaffen.“

Der Demenzparcours ermöglicht Erfahrungen, die demenziell erkrankte Menschen tagtäglich machen müssen. Foto: Andrea Hesse