Identität im Wandel!

Nachricht 09. Februar 2018

Fachtag thematisiert kulturelle und religiöse Verunsicherung

Wie müssen wir unsere Quellen schützen? Dr. Petra Bahr gab einen Impuls zum Abendland. Foto: Andrea Hesse

„Kulturdebatten brechen immer dann auf, wenn es große gesellschaftliche Umwälzungen gibt. Sie sind Katalysator für Unsicherheiten und Angsterfahrung und sie sind keine neue Erscheinung.“ Mit klaren Worten steckte Dr. Petra Bahr, Landessuperintendentin im Sprengel Hannover, den Horizont ihres Vortrages ab: Sie sei auf dem Weg, sich das als Kampfbegriff missbrauchte „Abendland“ auf legitimem Wege wieder anzueignen und dazu brauche es weniger die Betrachtung der Religionen als vielmehr die Einordnung in geschichtliche Narrative.

Dr. Horst Gorski, Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtes der VELKD, stellte den Begriff der Selbstintegration ins Zentrum seines Vortrages: „Identität ist etwas ganz Persönliches, das jeder Mensch durch Bezugnahme auf seine Vorfahren und die ihn umgebenden Zusammenhänge selbst ausformen muss.“ Der Begriff Selbstintegration beschreibe einen Weg, auf dem immer wieder Einflüsse von außen aufgenommen würden und identitätsbildend wirkten: Kaffee, Hygiene, Mathematik und Marschmusik seien schlichte Beispiele für diesen Prozess.

„Meine Kultur? Deine Religion? Identität im Wandel?“ Unter diese drei Fragen hatte Andreas Kunze-Harper den Fachtag seines Arbeitsfeldes Kultursensible Seelsorge im Zentrum für Seelsorge gestellt. Seit etwa anderthalb Jahren auf einer Projektstelle am ZfS tätig, ging es ihm darum, die eigenen religiösen und kulturellen Positionen in der interkulturellen Arbeit zu reflektieren, nach ihren Ursprüngen zu fragen und den Wandel in der lutherischen Identität zu thematisieren. 25 Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Arbeitsbereichen innerhalb der hannoverschen Landeskirche, aus Hamburg und aus Braunschweig, waren der Einladung gefolgt und erlebten einen Fachtag mit zwei inspirierenden Impulsvorträgen und lebhafter Diskussion. Einmal mehr erwies sich das Zentrum für Seelsorge dabei als räumlich und atmosphärisch gut geeigneter Ort für Impulse und Austausch.

Weder national noch geografisch geprägt

Petra Bahr rollte in ihrem Impuls die Herkunft des Wortes Abendland auf: Luther habe es einst als Pendant zum Morgenland geprägt und eher demütig als konfrontativ verstanden. Bereits wenige Jahre später sei das Wort dann als Kampfbegriff gegen die Türken eingesetzt worden und werde seither von verschiedenen Seiten missbraucht: „Der Begriff Abendland wird immer dann aufgerufen, wenn man es mit Feinden, mit äußeren oder auch inneren Feinden, zu tun hat.“ Dabei sei die Erzählung vom Abendland weder national noch geografisch geprägt und auch mit dem Begriff des Westens nicht gleichzusetzen: „Grundlage des Abendlandes sind die griechische Philosophie, die Idee des römischen Rechts und die christlich-jüdische Tradition.“

Für kontraproduktiv hält Petra Bahr eine Wertedebatte in Sachen Abendland: „Wir sollten das, was das Abendland ausmacht, vielmehr als Ressourcen betrachten, die wir dann nutzen können, wenn ihre Quellen sprudeln.“ Um die Quellen sprudeln zu lassen, müsse von vielen aus ihnen getrunken werden, betonte Petra Bahr und bekannte, dass auch sie selbst dazu viele Fragen aber nur wenige Antworten habe. Wie müssen wir unsere Quellen schützen? Wie lassen wir möglichst viele daraus trinken? Was verteidigen wir und welche Quelle geben wir auf? Wo sind die Starken und wo die Opfer? Und: „Multikulturalität ist nicht nur bunt und schön.“

Neben allen Fragen benannte Petra Bahr in ihrem Impuls abschließend eine starke Ressource des Abendlandes: „Der Horizont der Freiheit kennzeichnet das Abendland. Wir können alles fragen und alle Autoritäten in Frage stellen.“ Ungefährdet sei allerdings auch diese Liberalität nicht: „Liberale Standpunkte gelten nicht nur als Stärke sondern auch als Schwäche – bei denjenigen, die in der unübersichtlicher werdenden Gesellschaft mit Macht nach vermeintlicher Eindeutigkeit suchen. Gerade deshalb müssen wir diese Standpunkte mit Haltung vertreten.“

Teil der säkularen Gesellschaft, nicht ihr Gegenüber: Dr. Horst Gorski wünscht sich mehr Lebensdeutungskompetenz aus der universitären Theologie. Foto: Andrea Hesse

Auch der Begriff „Integration“ sei zu einem Debatten- und Kampfbegriff gemacht worden, stellte Horst Gorski fest. Er setzte dieser Betrachtungsweise die Selbstintegration als Lebensaufgabe entgegen und machte sie an verschiedenen biblischen Texten fest. Die Ambivalenz aus Pilgerschaft und Sesshaftigkeit, Heimat und Fremdheit und die Notwendigkeit, diese Erfahrungen in der eigenen Identität zusammenzuführen, würden etwa im Hebräer-Brief thematisiert: „Wir haben hier keine bleibende Stadt sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebr. 13,14)

„Der noch im Mittalter gültige Anspruch auf Alleinzuständigkeit der Religion für alle Fragen der Gesellschaft wurde durch die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft aufgehoben“, erklärte Gorski den Ursprung der Fremdheit innerhalb einer Gesellschaft. Die Reformation habe diese Entwicklung verstärkt; Vernunft, Freiheit und Toleranz in ihren Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit seien aber erst mit dem Neuprotestantismus im 18. Jahrhundert erkämpft und wirksam geworden: „Der Freiheitsbegriff wurde Luther fälschlicherweise zugeschrieben.“

Dem Neuprotestantismus sei es nicht schwer gefallen, sich gegenüber anderen Religionen zu öffnen, ohne dadurch die eigene Identität – definiert unter anderem durch die lutherischen Identitätsmarker sola gratia, sola scriptura, sola fide – gefährdet zu sehen. Eine orthodoxe oder auch restaurative Theologie tue sich damit ungleich schwerer, so Gorski. Als Beispiel für Bemühungen um Selbstintegration nannte er in diesem Zusammenhang die Beteiligung der evangelischen Kirche an der Ausbildung muslimischer Seelsorgerinnen und Seelsorger.

Bereitschaft zur Offenheit wirkt heilsam

Wie heilsam die Bereitschaft zur Offenheit wirken kann, erklärte eine Teilnehmerin in der auf die Vorträge folgenden Diskussion: „Es ist mir eine große Freude, evangelisch-lutherisch zu sein; daraus habe ich sehr viel Freiheit gegenüber Autoritäten entwickelt. Das habe ich aber erst in anderen religiösen Kontexten in der Fremde erkannt.“ Nach Faktoren für die Fähigkeit zur Selbstintegration gefragt, nannte Horst Gorski Vertrauen und Glauben: „Diese beiden können eine Hilfe sein.“

„Wir können nicht lebendig bleiben, wenn wir nicht in der Lage sind, immer wieder Fremdes aufzunehmen“, formulierte Horst Gorski eine Forderung an kirchliches Selbstverständnis. Die weit verbreitete Selbstdefinition „Wir sind die, die immer weniger werden, aber wir haben eine Botschaft“ führe in die Defensive und in eine Sackgasse: „Wir sollten uns als Teil der säkularen Gesellschaft sehen, nicht als ihr Gegenüber.“ Dieser Prozess brauche Menschen, die in der Lage seien, viel aufzunehmen und zu steuern: „Sich selbst in der eigenen Verunsicherung Halt geben – das ist eine Leitungsaufgabe.“ Der universitären Theologie traut Gorski in dieser Hinsicht nicht allzu viel zu: „Sie dient nur sehr begrenzt der Deutung der Lebenswirklichkeit – wir brauchen aber Lebensdeutungskompetenz.“

„Wo sind die Texte der systematischen Theologen, die uns im Dialog mit Nichtchristen helfen?“, fragte auch Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, Beauftragter für Kirche und Islam der hannoverschen Landeskirche und Vorsitzender des Hauses der Religionen. „Wie soll ich Muslimen erklären, dass es bei der Trinität nicht um Vater, Mutter, Kind geht?“

„Meine Erwartung war nicht, dass wir heute zu eindeutigen Antworten kommen“, schloss Andreas Kunze-Harper den Fachtag. „Diese Erwartung ist bestätigt worden.“ Immerhin könne er jetzt aber das Fragezeichen hinter „Identität im Wandel?“ durch ein Ausrufezeichen ersetzen.