
„Kulturdebatten brechen immer dann auf, wenn es große gesellschaftliche Umwälzungen gibt. Sie sind Katalysator für Unsicherheiten und Angsterfahrung und sie sind keine neue Erscheinung.“ Mit klaren Worten steckte Dr. Petra Bahr, Landessuperintendentin im Sprengel Hannover, den Horizont ihres Vortrages ab: Sie sei auf dem Weg, sich das als Kampfbegriff missbrauchte „Abendland“ auf legitimem Wege wieder anzueignen und dazu brauche es weniger die Betrachtung der Religionen als vielmehr die Einordnung in geschichtliche Narrative.
Dr. Horst Gorski, Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtes der VELKD, stellte den Begriff der Selbstintegration ins Zentrum seines Vortrages: „Identität ist etwas ganz Persönliches, das jeder Mensch durch Bezugnahme auf seine Vorfahren und die ihn umgebenden Zusammenhänge selbst ausformen muss.“ Der Begriff Selbstintegration beschreibe einen Weg, auf dem immer wieder Einflüsse von außen aufgenommen würden und identitätsbildend wirkten: Kaffee, Hygiene, Mathematik und Marschmusik seien schlichte Beispiele für diesen Prozess.
„Meine Kultur? Deine Religion? Identität im Wandel?“ Unter diese drei Fragen hatte Andreas Kunze-Harper den Fachtag seines Arbeitsfeldes Kultursensible Seelsorge im Zentrum für Seelsorge gestellt. Seit etwa anderthalb Jahren auf einer Projektstelle am ZfS tätig, ging es ihm darum, die eigenen religiösen und kulturellen Positionen in der interkulturellen Arbeit zu reflektieren, nach ihren Ursprüngen zu fragen und den Wandel in der lutherischen Identität zu thematisieren. 25 Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Arbeitsbereichen innerhalb der hannoverschen Landeskirche, aus Hamburg und aus Braunschweig, waren der Einladung gefolgt und erlebten einen Fachtag mit zwei inspirierenden Impulsvorträgen und lebhafter Diskussion. Einmal mehr erwies sich das Zentrum für Seelsorge dabei als räumlich und atmosphärisch gut geeigneter Ort für Impulse und Austausch.
Weder national noch geografisch geprägt
Petra Bahr rollte in ihrem Impuls die Herkunft des Wortes Abendland auf: Luther habe es einst als Pendant zum Morgenland geprägt und eher demütig als konfrontativ verstanden. Bereits wenige Jahre später sei das Wort dann als Kampfbegriff gegen die Türken eingesetzt worden und werde seither von verschiedenen Seiten missbraucht: „Der Begriff Abendland wird immer dann aufgerufen, wenn man es mit Feinden, mit äußeren oder auch inneren Feinden, zu tun hat.“ Dabei sei die Erzählung vom Abendland weder national noch geografisch geprägt und auch mit dem Begriff des Westens nicht gleichzusetzen: „Grundlage des Abendlandes sind die griechische Philosophie, die Idee des römischen Rechts und die christlich-jüdische Tradition.“
Für kontraproduktiv hält Petra Bahr eine Wertedebatte in Sachen Abendland: „Wir sollten das, was das Abendland ausmacht, vielmehr als Ressourcen betrachten, die wir dann nutzen können, wenn ihre Quellen sprudeln.“ Um die Quellen sprudeln zu lassen, müsse von vielen aus ihnen getrunken werden, betonte Petra Bahr und bekannte, dass auch sie selbst dazu viele Fragen aber nur wenige Antworten habe. Wie müssen wir unsere Quellen schützen? Wie lassen wir möglichst viele daraus trinken? Was verteidigen wir und welche Quelle geben wir auf? Wo sind die Starken und wo die Opfer? Und: „Multikulturalität ist nicht nur bunt und schön.“
Neben allen Fragen benannte Petra Bahr in ihrem Impuls abschließend eine starke Ressource des Abendlandes: „Der Horizont der Freiheit kennzeichnet das Abendland. Wir können alles fragen und alle Autoritäten in Frage stellen.“ Ungefährdet sei allerdings auch diese Liberalität nicht: „Liberale Standpunkte gelten nicht nur als Stärke sondern auch als Schwäche – bei denjenigen, die in der unübersichtlicher werdenden Gesellschaft mit Macht nach vermeintlicher Eindeutigkeit suchen. Gerade deshalb müssen wir diese Standpunkte mit Haltung vertreten.“