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Ein stabiles Netzwerk hilft

Nachricht 05. Juni 2018

Seit der Katastrophe von Eschede hat sich die Notfallseelsorge verändert

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Pastor Joachim Wittchen

In diesen Tagen jährt sich die Katastrophe von Eschede zum 20. Mal. Das durch den Bruch eines Radreifens ausgelöste Zugunglück in dem niedersächsischen Ort kostete am 3. Juni 1998 mehr als 100 Menschen das Leben, viele weitere wurden schwer verletzt. „Eschede“ hat sich im kollektiven Gedächtnis festgesetzt – und es war ein Ereignis, das auch die Notfallseelsorge veränderte.

Joachim Wittchen, landeskirchlicher Beauftragter für Notfallseelsorge, vermutet, dass bei einer vergleichbaren Katastrophe heute manches anders laufen würde: „Es gäbe mehr Kräfte am Unfallort, weil alle Organisationen, die mit Notfallseelsorge und Krisenintervention zu tun haben, heute anders aufgestellt sind als vor 20 Jahren“, sagt er. Gleichzeitig betont Wittchen, dass der Einsatz der Seelsorgerinnen und Seelsorger in Eschede hochprofessionell war: In der akuten Phase der Rettungs- und Bergungsarbeiten waren dort etwa 70 Pastorinnen und Pastoren, Diakoninnen und Diakone vor Ort. Allerdings hätten sie vor zwei Jahrzehnten vor allem die Opfer und ihre Angehörigen in den Blick genommen, weniger die Rettungskräfte: „Damals waren die psychosozialen Belastungen bei Einsatz­kräften noch gar nicht so im Blick wie heute.“

Würde heute der Extremfall einer sogenannten Großschadenslage wie in Eschede eintreten, würde die Notfallseelsorge nach einem festgelegten Ablauf tätig, erklärt Joachim Wittchen. Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger aus dem Notfallseelsorgesystem des direkt betroffenen Kirchenkreises und aus den Nachbarkirchenkreisen kämen an den Unglücksort, um für Verletzte, Angehörige und Rettungskräfte da zu sein. „Ein solcher Fall tritt aber zum Glück nur sehr selten ein“, sagt Wittchen. Im Jahr 2017 gab es in der hannoverschen Landeskirche 1.689 Einsätze für die Notfallseelsorge; in 1.266 dieser Fälle suchten die Seelsorgerinnen und Seelsorger die Betroffenen zuhause auf. Nur 423 Einsätze fanden im öffent­lichen Bereich statt, etwa bei schweren Verkehrsunfällen.

Belastend für Pastorinnen und Pastoren können beide Arten von Einsätzen sein – die bei großen Ereignissen im öffentlichen Raum ebenso wie die stillen Einsätze im Haus. Auch die Seelsorgerinnen und Seelsorger brauchen manchmal Hilfe, um die Ereignisse zu verarbeiten – Joachim Wittchen und seine Kolleginnen und Kollegen können sich dabei auf ein stabiles Netzwerk verlassen. Das Gespräch untereinander hilft; darüber hinaus gibt es institutionalisierte Formen der Unterstützung: „In der hannoverschen Landes­kirche haben wir den Pastoral­psychologischen Dienst, der für Mitarbeitende Supervision und Coaching anbietet. Und seit etwa vier Jahren ist die Notfallseel­sorge auch Teil des Zentrums für Seelsorge, was uns in verschiedener Hinsicht stärkt.“

Pastor Frank Waterstraat, der als Notfallseelsorger vor 20 Jahren in Eschede im Einsatz war, hat in einem Beitrag für das evangelische Magazin Chrismon berichtet, wie er die Katastrophe verarbeitet hat. „So merkwürdig es klingen mag, aber ich habe aus Eschede etwas für mich mitgenommen: die aktive Dankbarkeit für jeden Tag, der gut ist, den ich schmerzfrei verbringe. Ich kann mich in der Mittagspause daran erfreuen, zehn Minuten in der Sonne zu sitzen, einfach so.“