Fühlbilder für den Zugang zur Welt

Nachricht 11. November 2020

Blindenseelsorger entwickelt ein Fühlbuch für blinde Kinder

Sarah Affeldt und Andreas Chrzanowski wünschen sich taktile Bücher mit biblischen Geschichten für Kinder. Foto: Andrea Hesse

Andreas Chrzanowski und Sarah Affeldt haben die erste Geschichte sorgfältig ausgewählt: Die biblische Erzählung von Jona und dem Wal soll es sein. Die Geschichte des Propheten Jona, der vor einem Auftrag Gottes zunächst davonläuft, erscheint ihnen gut geeignet: Sie spricht Kinder emotional an, lässt sich reduzieren, ohne ihre Aussage zu verlieren und bietet Bilder, die nicht nur angeschaut, sondern auch erfühlt werden können.

„Wenn alles klappt, wie wir uns das vorstellen, könnte der Prototyp des Fühlbuches ‚Jona und der Wal‘ Anfang 2021 fertig sein“, sagt Chraznowski. Der Beauftragte für Blindenseelsorge am Zentrum für Seelsorge und Beratung in Hannover bedauert es, dass es bislang auf dem Buchmarkt keine Fühlbücher zu biblischen Geschichten gibt – und er möchte das ändern. Gemeinsam mit Sarah Affeldt, Religionslehrerin am Landesbildungszentrum für Blinde mit dem Schwerpunkt Frühförderung, ist er dabei, ein solches Fühlbuch zu entwickeln. Ziel ist es, dieses Buch und weitere folgende in Serie produzieren zu lassen.

Familienalltag, der Kinder und Eltern stärkt

„Der Blinden- und Sehbehindertenverband gibt sogenannte taktile Märchenbücher heraus, die immer sofort nach Erscheinen ausverkauft sind“, erzählt Chrzanowski. Der Blindenseelsorger, der selbst erblindet ist, bedauert es sehr, dass das Angebot nicht größer ist und auch biblische Geschichten umfasst: „Wenn sich Eltern mit ihren sehbehinderten oder blinden Kindern gemeinsam in ein Fühlbuch vertiefen, ist auch die soziale Situation wichtig: ein Stück Familienalltag, das den Kindern die Möglichkeit der Beteiligung bietet und die Eltern stärkt.“

„Kinder lieben die Emotionalität der biblischen Geschichten“, ergänzt Affeldt, die für ihre Arbeit mit Kindern gerne häufiger literarische Mittel nutzen würde. Das bloße Vorlesen oder Erzählen von Geschichten reiche dafür nicht aus, betont sie: „Den Zugang zur narrativen Welt verschaffen sich sehende Kinder über Abbildungen. Sehbehinderte oder blinde Kinder brauchen aber einen anderen Zugang zum Kulturgut Bild – das Fühlen.“ Dies sei auch deshalb wichtig, da viele Eltern bislang Hemmungen hätten, sich gemeinsam mit ihrem blinden Kind ein Buch anzuschauen.

Häufig werden Fühlbücher von Eltern selbst hergestellt, um blinden oder sehbehinderten Kindern einen Zugang zur Welt zu schaffen. Foto: Andrea Hesse

Etwa zwei Monate Textarbeit liegen mittlerweile hinter Affeldt und Chrzanowski: „Da entstehen keine Bilder im Kopf, haben wir festgestellt, als die erste Version fertig war“, berichtet Chrzanowski. Die Bilder, die der Text beim Hören auslöse, müssten kongruent sein zu dem, was sich in einem Buch taktil darstellen lasse – keine ganz einfache Aufgabe bei einer Geschichte, die von einem Mann auf der Flucht, vom Meer und vom Sturm, von einem schwankenden Schiff und einem riesigen Fisch erzählt. Mittlerweile ist es gelungen, und auch die technische Gestaltung des Fühlbuches hat konkrete Form angenommen: Auf einem Meer aus blauem Lack wird ein Schiff mit Holzstruktur und Segeln aus Tuch unterwegs sein. Die Geschichte wird parallel in Schwarz- und in Brailleschrift erzählt, während die Figur des Jona mit durchs Buch reist, in den Wal hineingesetzt und wieder herausgezogen werden kann. „Unser Wal lässt sich umklappen, sodass er Jona an Land spucken kann“, erzählt Chrzanowski auch.

Einfacher Kunststoff wäre nicht authentisch

Bei der Realisierung des Projektes mit im Boot sind auch Barbara Brusius, theologische Referentin beim Dachverband für evangelische Blinden- und Sehbehindertenseelsorge, und Rainer Delgado. Der blinde Theologe, der in Berlin an der Entwicklung der deutschlandweit ersten barrierefreien Ausstellung in einer Kunstgalerie beteiligt war, hat bereits erste Entwürfe für die taktilen Elemente der Jona-Geschichte fertiggestellt, die in einer Manufaktur umgesetzt werden. Delgado ist es ebenso wie Chrzanowski und Affeldt wichtig, mit diesen Elementen ein authentisches Gefühl zu erzeugen: „Einfacher Kunststoffguss bietet kein schönes Erlebnis“, sagt Andreas Chrzanowski.

Wenn der Prototyp fertiggestellt ist, will sich der Blindenseelsorger auf die Suche nach einem Verlag machen, der das taktile Buch in Serie produziert. Weitere Fühlbücher sollen folgen; auch sie mit sorgfältig ausgewählten und liebevoll mit Fühlbildern versehenen Geschichten. Für die Finanzierung möchte Chrzanowski Mittel des Blinden- und Sehbehindertenverbandes und Stiftungsgelder einwerben und hofft auf Kollekten.