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Foto: Cordula Paul

Eine ganz andere Wahrnehmung

Nachricht 22. November 2015

Dunkelgottesdienst in der St.-Markus-Kirche Osnabrück

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Landesblindenpastor Andreas Chrzanowski. Foto: Andrea Hesse

„Achtung, jetzt geht’s los! Halten Sie sich gut fest!“, sagt einer der blinden Helfer, der die Besucher zum Dunkelgottesdienst in die Osnabrücker St.-Markus-Kirche führt. Ruth Rauscher gehört zur letzten Gruppe, die in den vollkommen dunklen Kirchenraum hineinkommt. Nur wenige Plätze in der letzten Reihe sind noch frei. Mehr als 120 Besucherinnen und Besucher wurden so von Helferinnen und Helfern des Osnabrücker Blinden- und Sehbehindertenverbandes in die Kirche geführt.

Eine Viertelstunde vor Beginn des Gottesdienstes, zu dem die Blinden- und Sehbehinderten-Seelsorge der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, der Kirchenkreis Osnabrück und der Blindenverband in Osnabrück eingeladen hatten, bildet sich eine Schlange vor der St.-Markus-Kirche. Bei den meisten Wartenden ist eine prickelnde Erwartung zu spüren.

Dann gibt es einen „Liedzettel“, zwei Zeilen in Punktschrift. Vom Vorraum der Kirche geht es weiter in eine Dunkelschleuse, von dort werden dann jeweils fünf Gottesdienstbesucher von einem blinden Menschen in die stockdunkle Kirche gebracht.

Ein Team um Joachim Hentschel, Küster und Pfarrsekretär der Gemeinde, hat den Kircheninnenraum am Freitag zuvor mit vielen Metern Stoff verdunkelt. „Für die Arbeiten in sechs Metern Höhe standen wir vor der Frage, eine Hebebühne zu organisieren oder jemanden zu finden, der schwindelfrei ist. Uns half dann jemand aus der Gemeinde, der das Arbeiten in großen Höhen gewöhnt ist, ein Dachdecker“, erklärt Joachim Hentschel die Herausforderungen, die es bei der Umsetzung dieses Projektes gab.

Für die Besucherinnen und Besucher wird der Gottesdienst zu einem besonderen Erlebnis. „Die gesprochenen Worte und die Musik habe ich ganz anders wahrgenommen, viel intensiver“, sagt Ruth Rauscher später am Ausgang. Und Gemeindeglieder erzählen davon, wie sie ihre vertraute Kirche plötzlich anders erlebt haben.

Im Zentrum des Gottesdienstes steht die Geschichte des blinden Bartimäus (Mk 10). In einer Dialogpredigt mit der sehbehinderten Marina Herbers geht es um die Frage, was Sehende von ihm lernen können. Zwei Dinge werden dabei besonders betont: das Vertrauen auf Gott nicht aufzugeben und die Hilfe Gottes anzunehmen. „Ich bin ganz überrascht gewesen, dass so viele sich ein Mitwirken im Gottesdienst vorstellen konnten“, sagt der Blindenseelsorger der Landeskirche, Pastor Andreas Chrzanowski. „Dabei bedeutet es doch für alle, auf Noten oder schriftliche Konzepte verzichten zu müssen.“
Und so gestalteten Sabine Weber vom Kirchenvorstand der St.-Markus-Gemeinde, Maren Mittelberg, die Inklusionsbeauftragte des Kirchenkreises, viele Sehbehinderte und Blinde sowie eine vierköpfige Band gemeinsam den Gottesdienst.

Als nach einer Stunde die Kerzen auf dem Altar angezündet werden, sehen die Besucher zum ersten Mal an diesem Abend den Kirchenraum und die vielen Menschen in den Bankreihen. „Diesen Gottesdienst werde ich nicht so schnell wieder vergessen“, sagt Ruth Rauscher, als sie – sichtlich bewegt – die St.-Markus-Kirche verlässt.