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Foto: Zentrum für Seelsorge

„Virtuell oder real ist nicht mehr relevant“

Nachricht 11. Dezember 2016

Fachgespräch des ZfS zu Seelsorge und Beratung in den digitalen Medien

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In seinem Impulsreferat spannte er einen weiten Bogen: Kirchenrat Ralf Peter Reimann. Foto: Andrea Hesse

Die Zusammensetzung des Plenums war ideal: Mehr als 20 Vertreterinnen und Vertreter des Landeskirchenamtes, des Zentrums für Seelsorge und seines Kuratoriums, aus der Telefonseelsorge, der Chatseelsorge, der Internet- und der Öffentlichkeitsarbeit kamen jetzt zum Fachgespräch „Szenarien für Seelsorge und Beratung in den digitalen Medien“ im ZfS zusammen. In seinem Impulsreferat spannte Kirchenrat Ralf Peter Reimann, Internetbeauftragter der Evangelischen Kirche im Rheinland, einen weiten Bogen zu ganz unterschiedlichen Online-Angeboten der Seelsorge und Beratung im deutschsprachigen Raum.

„Sie sind Pfarrer und Diplom-Informatiker – eine wunderbare Kombination für unser heutiges Thema“, begrüßte ZfS-Direktor Martin Bergau den Referenten. Seit 2003 sammelt Reimann Erfahrungen mit der Chatseelsorge, an deren Aufbau er in Zusammenarbeit mit Pfarrerinnen und Pfarrern aus der rheinischen und der hannoverschen Landeskirche beteiligt war. „Ganz nah dran und doch weit weg“, so auch der Untertitel seines Referates, sei die Spanne, wenn man das Thema beleuchte: „Bei jungen Menschen liegt die Online-Nutzung bei 99,9 Prozent, gleichzeitig sind wir als Institution Kirche ganz weit weg davon.“ Bundesweit ließen sich die Online-Pfarrer und -Pfarrerinnen an zwei Händen abzählen, diese wenigen aber nutzten ganz unterschiedliche Kanäle: Sie sind in der Mailseelsorge, der Chatseelsorge und der WhatsApp-Seelsorge unterwegs. In Skandinavien und der Schweiz gibt es darüber hinaus die Kanäle Facebook, SMS und auch Videokonferenzen; Snapchat und Mindcraft seien weitere denkbare Alternativen.

"Keine Online-Netzwerke, in denen Seelsorge nicht möglich ist"


Fast immer, so Ralf Peter Reimann, habe das jeweilige Angebot mit einer Einzelinitiative begonnen, die institutionell aufgegriffen oder aber abgewehrt worden sei. „Manches ist gut gemeint, aber nicht gut gemacht“, so Reimann. Dennoch: „Ich würde nicht sagen, dass es Online-Netzwerke gibt, in denen Seelsorge nicht möglich ist“, ist der Internetbeauftragte überzeugt. Der Kanal Mail sei vertraut, nicht jedoch per se besser als zum Beispiel WhatsApp: „Wenn wir wollen, kriegen wir das auch hier mit dem Seelsorgegeheimnisgesetz hin. Die Transport-Verschlüsselung ist kein Persilschein, aber doch eine Möglichkeit.“ Entscheidend sei die Sicherung der Verschwiegenheit, nicht der Anonymität; dazu sei die Klärung von Fragen zum Datenschutz, abhängig von der Art des Angebotes, notwendig. Aber: „Die Anwendung des Bundesdatenschutzgesetzes würde reichen“, ist Reimann überzeugt – das kompliziertere EKD-Recht führe manchmal zu der Haltung „dann lass ich es eben“. 

„Absoluten Schutz gibt es kaum“, appellierte Reimann an das Plenum, sich nicht aufgrund von Sicherheitsbedenken einfach rauszuhalten. „Auch das Fenster im Dienstzimmer eines Pfarrers könnte offen sein, ganz zu schweigen von den unvorhergesehenen Seelsorgegesprächen im Supermarkt oder im vollen Zug.“ Er erinnerte an den Auftrag der Volkskirche, „alles Volk“ zu erreichen und sich nicht auf bestimmte Milieus zu beschränken, auch wenn man dabei mit Widersprüchen leben müsse: „In den ‚sicheren‘ Netzwerken finden sich nicht die Menschen; die Netzwerke, in denen sich Menschen finden, sind nicht ‚sicher‘.“ Natürlich passe das Netz auch nicht zur traditionellen Parochialstruktur, die davon ausgehe, dass jeder Mensch in seiner Kirchengemeinde pfarramtlich versorgt und Online-Seelsorge daher nicht notwendig sei. In den USA etwa werde vorgemacht, wie sich Gemeinden im digitalen Raum zusammenfinden. Auch für die kirchlichen Beratungsstellen sieht Reimann die Tendenz, dass sie ihre Klientel zum Teil nicht mehr erreichen, wenn sie kein Online-Angebot vorhalten. Für die Mitarbeitenden bedeute dies, dass sie sowohl Seelsorge- als auch Medienkompetenz benötigen.

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Annäherung an ein noch wenig vertrautes Thema: Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fachgespräches. Foto: Andrea Hesse

„Der Gegensatz von virtuell und real ist nicht mehr relevant, er zählt in der Wahrnehmung der jungen Leute nicht mehr“, ist sich Reimann sicher. Bedeutung komme weniger der physischen Nähe als vielmehr der Kommunikation zu – sicherlich ein Schlüsselsatz für alle zukünftigen Überlegungen zur Zukunft von Seelsorge und Beratung.

Pastorin Birgit Berg, im Rahmen einer Projektstelle der hannoverschen Landeskirche verantwortlich für die Entwicklung von Online-Glaubenskursen, verstärkte die Aussagen Reimanns: „Ich muss mich auf den Kanal einlassen, den mein Gegenüber braucht und will“, erklärte sie und dachte dabei nicht nur an junge Menschen sondern auch an Alte oder Kranke, denen die Mobilität fehlt. „Unsere Klientinnen und Klienten entscheiden, was für sie Seelsorge ist“, stellte Pastor Stephan Lorenz von der Chatseelsorge fest. „Wir müssen lernen, unsere Angebote stärker von den Klienten her zu denken.“ Kay Oppermann, Internetbeauftragter der hannoverschen Landeskirche, beklagte die weit verbreitete Schere im Kopf: „Wir erleben alles Neue zunächst einmal als defizitär und das hält uns davon ab, das Richtige zu tun.“

Pfarrhaus und Hausbesuch virtuell


Neben rechtlichen und ethischen Fragen wie auch der Frage nach einer angemessenen Qualifizierung stellt sich im Zusammenhang mit Seelsorge und Beratung im digitalen Raum vor allem auch die Frage nach den Ressourcen: Online-Seelsorge lässt sich in dem Umfang, der notwendig wäre, sicher nur mit gut ausgebildeten Ehrenamtlichen realisieren; denkbar ist aber parallel dazu auch eine Entlastung von Pastorinnen und Pastoren, die beispielsweise gerne per WhatsApp kommunizieren. Christian Voigtmann, Leiter der Telefonseelsorge Hannover, griff den Gedanken auf, das große Team der Ehrenamtlichen in der Telefonseelsorge durch Pastorinnen und Pastoren zu ergänzen, die auf Wunsch nicht anonym sondern erkennbar für einen längerfristigen Kontakt zur Verfügung stehen.

Eine Chance für die Seelsorge im digitalen Raum sieht ZfS-Direktor Martin Bergau in der Neufassung des Curriculums für die Vikarsausbildung, die zurzeit erarbeitet wird – diese Dimension der Qualifizierung ist bislang noch nicht im Blick. „Wenn wir Volkskirche sein wollen, müssen wir unsere Pfarrerinnen und Pfarrer zugänglich machen“, unterstützte Ralf Peter Reimann und brachte den Begriff des „virtuellen Pfarrhauses“ ins Gespräch. Ergänzend nannte Kay Oppermann den „virtuellen Hausbesuch“, der vom „Kommt-zu-uns“ zum „Wir-kommen-zu-euch“ führe.