Am ersten Tag ...

Eine seelsorgliche Osterpredigt zu Johannes 21,1-18

Foto: Jens Schulze

Zu diesem Gottesdienst können Trauerfamilien, die seit dem Osterfest des vergangenen Jahres einen Angehörigen verloren haben, gezielt eingeladen werden. Es kann auch im Gemeindebrief auf den seelsorglichen Charakter dieses Gottesdienstes hingewiesen werden.

In der Predigt wird die Perikope nacherzählt, so dass bei kürzeren Gottesdiensten im Freien auf dem Friedhof die Lesung des Evangeliums ggf. entfallen bzw. durch ein erzählendes Osterlied – wie z.B. EG 103, 105, 116 – aufgenommen werden kann.

Der letzte Abschnitt sollte um die Bibelverse ergänzt werden, die in der jeweiligen Gemeinde als Hoffnungstexte bei Trauerfeiern gelesen werden oder in der Friedhofskapelle eingelassen sind.

Lied nach der Predigt: EG.E 5 Wir stehen im Morgen/ EG 116 Er ist erstanden, Halleluja

I. Unser erster Tag

Nach einem Todesfall – das Unwirkliche begreifen und aussprechen, beim Namen nennen

Am ersten Tag wacht man langsam auf, fühlt sich nach halbdurchwachter Nacht wie gerädert. Die ersten Gedanken ordnen sich mühsam. Dann dämmert es einem: Er/sie ist wirklich tot. Wir haben wirklich gestern am Bett gesessen. Das Telefon hat wirklich geklingelt. Es ist der erste Tag danach – nach dem Sterben, nach der Todesnachricht. Auch wenn man es in den letzten Wochen vielleicht geahnt hat, vielleicht sogar gehofft, dass es so kommen würde, es ist doch noch unbegreiflich. Es fühlt sich alles so unwirklich an, aber es ist wirklich wahr. Die Tasche mit den Sachen, der Zettel neben dem Telefon. Sie liegen im Flur und lassen keine Zweifel: Der Alptraum war kein nächtlicher Schrecken, sondern Erinnerung an das, was wirklich geschehen ist. So wird nicht alles gut und mit einem Schütteln und einem Kaffee, bei klarem Verstand mit einem erleichterten Lachen abgetan. Die nächsten sinnvollen Gedanken, die weiteren Schritte sie fallen schwer. Sie kosten Konzentration. Manche bringen kaum die Kraft auf, das Haus zu verlassen. Schließlich ist es erst der erste Tag.

Am ersten Tag wird klar, dass nun das eigene Leben in ein „Davor“ und ein „Danach“ geteilt ist. Es hat eine neue Zeitrechnung für all die begonnen, die den Menschen verloren haben und trauern. Es ist nichts mehr wie früher. Manche Familien und Freunde können sich schon in den ersten Stunden weiterhin gut gegenseitig unterstützen. Manche Menschen bleiben lieber für sich allein. Die Bedürfnisse sind so unterschiedlich – und auch das, was jetzt gemacht werden muss. Mit jedem Anruf, der ansteht, mit jedem Aussprechen wird es begreiflicher: Aus gemeinsamer Gegenwart wird geteilte Erinnerung, aus Präsenz Vergangenheit: Ich muss Euch leider eine traurige Nachricht überbringen. Sie lebt nicht mehr. Sie war liebevolle Ehefrau und Mutter, herzensgute Großmutter, zuverlässige Freundin, engagierte Kollegin, rüstige Sportkameradin. Der Vorname, der Kosename, der Nachname, der Spitzname, sie werden, alle ihre Namen werden noch einmal genannt, je nachdem bei wem sie wie bekannt war, entsetzt, ergriffen, gestottert, geflüstert, geseufzt, herausgeschrien. Es ist viel zu früh zu verstehen, was der Verlust bedeutet, wie es nun weitergehen kann, in der Familie, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, im Verein. Nur eines ist klar: Ein gemeinsamer Lebensweg mit all den verschiedenen Beziehungen ist zu Ende gegangen. Für alle anderen aber geht der Alltag weiter. Am ersten Tag stehen so viele verschiedene Zeiten und Lebenswirklichkeiten nebeneinander.

II. Marias erster Tag

Am leeren Grab das Unwirkliche begreifen und aussprechen, vom Auferstandenen beim Namen genannt

Am ersten Tag der Woche ist es für Maria Magdalena das erste Mal möglich, dass Haus zu verlassen, um zum Grab zu gehen. Die Dunkelheit kann sie nicht schrecken. Sie fürchtet sich nicht, allein durch die finsteren Straßen zu laufen. Sie muss an den Schattengestalten vorbei, die schon vor dem Morgengrauen ihren Alltagsgeschäften nachgehen. Sie geht hinaus vor die Stadt, bis auf den Friedhof. Sie hat keine Angst, erkannt und angeschaut zu werden, als eine, die zu dem gehört, der als Aufrührer verurteilt und getötet wurde. Größer als all ihre Furcht ist ihr Wunsch, mit eigenen Augen zu sehen, wo sie ihn hingelegt und begraben haben. Das mag ihr helfen, zu erkennen und zu verstehen, dass es wirklich wahr ist. Auch wenn sie es in den letzten Wochen vielleicht geahnt hatten, dass es schrecklich ausgehen könnte, dass er nicht nur in Lebensgefahr schwebt, sondern sein Leben wirklich verliert, ist es unbegreiflich. Es fühlt sich alles so unwirklich an, aber es ist wirklich wahr.

„Am ersten Tag der Woche kommt sie früh, als es noch finster war, zum Grab.“ Doch dann traut sie ihren Augen kaum: Der Stein ist vom Grab weggenommen. (V.1) Doch anstatt, dass sie zusammenbricht, dass Schrecken sie lähmt, läuft sie wieder los. Sie rennt, um den anderen Jüngern Bescheid zu sagen (V.2). Gemeinsam kehren sie eilig zum Grab zurück (V.3). Die beiden Männer, Petrus und Johannes, schauen und gehen hinein. Nacheinander. Beide sehen die Leinentücher, das Schweißtuch. Sie liegen sorgfältig zusammengelegt im Grab und lassen keine Zweifel: Hier liegt kein Grabraub vor. Hier wurde niemand in Eile weggeschafft (V.5-8). All die Zeichen lassen sich mit bloßem Verstand nicht deuten (V.9).

Es bleibt unbegreiflich – und Maria allein am Grab stehen (V.11). Haben die beiden Jünger sie vergessen? Vielleicht braucht sie auch diese Zeit für sich und bleibt lieber allein. Sie weint – aus Trauer um den geliebten Menschen, aus Erschöpfung nach all den anstrengenden Tagen, aus Wut über all die Ungerechtigkeit in der Welt, die sie erleben mussten und die ihn das Leben gekostet hat, aus Hilflosigkeit, nichts ändern zu können? Maria steht draußen vor dem Grab und lässt ihren Tränen freien Lauf. Dann hat auch sie die Kraft und den Mut hineinzuschauen. Doch statt der Leinentücher nimmt sie zwei Engel in weißen Gewändern wahr (V.12). Sie sprechen sie an: „Frau, was weinst du?“ (V.13). Sie wird weinend gesehen, aber nicht für ihre Tränen abgelehnt oder belächelt. Gleich darauf ist da noch einer, der sie genauso anspricht: „Frau, was weinst du?“ Zum dritten Mal muss sie erzählen, fragen… Und mit jedem Wort, dass sie ausspricht, wird sie es für sie etwas wirklicher und sie handlungsfähiger: Aus „Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grab, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (V.2) wird „Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (V.13b), schließlich „… so sage mir: ‚Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen.“ (V.15) Sie will alles in ihrer Kraft Stehende tun, damit er gefunden und angemessen beerdigt wird. Die Zuneigung zu ihrem Herrn kennt keine Furcht und keine Schwäche.

Die Antwort aber verändert alles: Sie teilt ihr Leben noch einmal in ein „Davor“ und ein „Danach“. Der vermeintliche Gärtner (V.15) spricht nur ein Wort, sie mit ihrem Namen „Maria“ an. So wird er für sie als „Rabbuni“, als ihr Meister erkennbar (V.16). Kein „Fürchte dich nicht!“, kein „Weine doch nicht!“, kein „Ich bin’s doch“ oder „Ich war doch“ – nur ihr Name. Das genügt. Nur dieses eine Wort und die Beziehung ist da und ist doch nicht mehr dieselbe, denn: Sie darf ihn nicht vorsichtig anfassen, um zu spüren, es ist wirklich wahr. Sie wird nicht noch einmal in den Arm genommen. Ihr wird nicht noch einmal stärkend die Hand gedrückt oder aufmunternd auf die Schulter geklopft, um ihr die Kraft zu geben, dass sie den Auftrag erfüllen kann, den er ihr mitgibt. Aber es reicht! Von ihm bei ihrem Namen gerufen zu werden, reicht, um ihn zu erkennen, um von ihm getröstet und so gestärkt zu sein, um erneut/ zum dritten Mal an diesem ersten Tag aufzubrechen. Sie geht und verkündet den anderen: „Ich habe den Herrn gesehen.“ (V.18). Es ist viel zu früh voll zu verstehen, was es bedeutet. Nur eines ist klar: Mit dem ersten Tag der Woche beginnt für sie wirklich eine neue Zeit. Sein gemeinsamer Lebensweg mit ihr und mit den anderen Jüngern geht auf andere Weise weiter (V.16, vgl. 1,38). Eine neue Zeit und Wirklichkeit ist in ihr Leben hineingebrochen.

III. Der erste Tag des Osterfestes

An unseren Gräbern die Hoffnung auf die Auferstehung begreifen und aussprechen, vom Auferstandenen beim Namen genannt

Am ersten Tag der Woche sind auch wir früh am Morgen, als es noch finster ist, zu den Gräbern gegangen. Manche von uns sind noch müde, aber Marias Worte haben uns aus dem Haus gerufen und hierhergeführt. Denn, weil sie weiter erzählt hat „Ich habe den Herrn gesehen.“ (V.18), konnte ihre Geschichte zu dem werden, was uns heute in der Dämmerung verbindet.

Am ersten Tag der Woche stehen wir an unseren Gräbern und hören ihre Erzählung vom leeren Grab. Auf manchen unserer Gräber haben die Pflanzen schon lange tiefe Wurzeln geschlagen. Auf anderen Grabstätten fehlt bisher der Stein. Und auf wenigen verblühen noch die Blumen der Gestecke. So unterschiedlich lang sind unsere Trauerwege. So unterschiedlich viel Zeit liegt zwischen unserem ersten Tag, der unser eigenes Leben in ein „Davor“ und ein „Danach“ geteilt hat. Und für manche von uns gibt es viele solcher ersten Tage nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Sie stehen an den Gräbern ihrer Familie. Sie erinnern die Namen vieler Menschen, von denen sie Abschied nehmen mussten. Manchmal sind wir die einzigen, die noch die Kosenamen oder die Spitznamen wissen, unter denen ein Verstorbener bekannt war, die einzigen, die ihr Wirken und ihre Lebensleistung in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder im Verein aufzählen können, die einzigen, die all die Beziehungen ahnen, in denen sie standen. Manchmal sind wir die einzigen, die sich – und andere – noch an gemeinsame Lebenswege erinnern können und sie durch geteilte Erinnerungen lebendig halten. Hinter jedem Namen und jedem Datum, das hier in Stein gemeißelt, in Lettern eingraviert ist, das auf Plaketten festgehalten ist, steht gelebte Lebenszeit.

Am ersten Tag der Woche sind wir jetzt hier, um uns an unseren Gräbern an ihre Geschichte am Grab zu erinnern. Wir haben sie nicht mit eigenen Augen gesehen. Wir haben sie nur gelesen, gehört, erzählt bekommen. Wir können deshalb nicht sagen „Ich habe den Herrn gesehen“. Zu jedem Osterfest werden uns aber so die Zeichen vor Augen gemalt: der fehlende Stein, ein leeres Grab, zusammengelegte Leinentücher und ein gefaltetes Schweißtuch. Das große Wort der „Auferstehung“ bleibt unbegreiflich. Aber diese Zeichen werden seit 2.000 Jahren vor Augen geführt, damit wir keine Zweifel, sondern Hoffnung haben, dass es wirklich wahr ist: Er wurde nicht weggenommen, sondern auferweckt. Wir hören von der Begegnung, in der durch ein Wort die Beziehung da ist, ein Wort – ihr Name. Ein Wort wie eine Berührung, denn ihn anzufassen bleibt ihr – wie uns – verwehrt. Und trotzdem ist Maria Magdalena losgegangen. Und trotzdem sind die anderen Jünger losgegangen. Und trotzdem geht seit Generationen das Wort um die Welt „Ich habe den Herrn gesehen“ (V.18) – „Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja.“

Am ersten Tag dieses Osterfestes 2026 stehen wir in der Hoffnung an unseren Gräbern, dass Er auferstanden ist und auch unsere Verstorbenen bei ihrem Namen gerufen hat. Wir vertrauen darauf, dass für sie ein neues Leben in seiner Zeit und Wirklichkeit begonnen hat.

Noch muss sich unsere Hoffnung mit und in jedem Verlust, auf unseren Trauerwegen neu bewähren. Als Christ:innen teilen wir aber diese gemeinsame Erinnerung an den ersten Tag, den Maria Magdalena erlebte. Gerade mitten im Alltag kostet es manchmal Mut und Kraft, auf die Worte dieser alten Geschichte neu zu vertrauen. Das können wir einander nicht abnehmen, denn noch erzählt sie aus einer anderen Zeit von einer anderen Lebenswirklichkeit.

IV. Der letzte erste Tag

Die Erfüllung der Hoffnung auf die Auferstehung für uns alle, vom Auferstandenen beim Namen genannt

Und eines Tages wird der erste Tag da sein. Der erste Tag, nicht einer neuen Woche oder eines neuen Lebensabschnitts. Es wird der erste Tag der neuen Zeit und Wirklichkeit sein. Sie bricht für uns alle an, weil der, der Himmel und Erde geschaffen hat, alles neu macht. Und Gott wird abwischen alle Tränen. Und wir werden befreit auflachen können, weil es kein Leid mehr gibt und kein Geschrei, weil dem Tod endgültig der Schrecken genommen ist, und das Leben siegt. Dann werden wir die Hoffnung auf die Auferstehung wirklich verstehen und begreifen, weil ER auch uns bei unserem Namen gerufen hat. Und wir werden sagen: „Ich habe den Herrn gesehen.“ Dann gibt es nur noch eine Zeit und Wirklichkeit für immer und ewig.

Amen.

Dr. Vera Christina Pabst, Pastorin, Beauftragte für den Lektoren- und Prädikantendienst

 

Ihre Ansprechperson

Dr. Vera Christina Pabst