II. Marias erster Tag
Am leeren Grab das Unwirkliche begreifen und aussprechen, vom Auferstandenen beim Namen genannt
Am ersten Tag der Woche ist es für Maria Magdalena das erste Mal möglich, dass Haus zu verlassen, um zum Grab zu gehen. Die Dunkelheit kann sie nicht schrecken. Sie fürchtet sich nicht, allein durch die finsteren Straßen zu laufen. Sie muss an den Schattengestalten vorbei, die schon vor dem Morgengrauen ihren Alltagsgeschäften nachgehen. Sie geht hinaus vor die Stadt, bis auf den Friedhof. Sie hat keine Angst, erkannt und angeschaut zu werden, als eine, die zu dem gehört, der als Aufrührer verurteilt und getötet wurde. Größer als all ihre Furcht ist ihr Wunsch, mit eigenen Augen zu sehen, wo sie ihn hingelegt und begraben haben. Das mag ihr helfen, zu erkennen und zu verstehen, dass es wirklich wahr ist. Auch wenn sie es in den letzten Wochen vielleicht geahnt hatten, dass es schrecklich ausgehen könnte, dass er nicht nur in Lebensgefahr schwebt, sondern sein Leben wirklich verliert, ist es unbegreiflich. Es fühlt sich alles so unwirklich an, aber es ist wirklich wahr.
„Am ersten Tag der Woche kommt sie früh, als es noch finster war, zum Grab.“ Doch dann traut sie ihren Augen kaum: Der Stein ist vom Grab weggenommen. (V.1) Doch anstatt, dass sie zusammenbricht, dass Schrecken sie lähmt, läuft sie wieder los. Sie rennt, um den anderen Jüngern Bescheid zu sagen (V.2). Gemeinsam kehren sie eilig zum Grab zurück (V.3). Die beiden Männer, Petrus und Johannes, schauen und gehen hinein. Nacheinander. Beide sehen die Leinentücher, das Schweißtuch. Sie liegen sorgfältig zusammengelegt im Grab und lassen keine Zweifel: Hier liegt kein Grabraub vor. Hier wurde niemand in Eile weggeschafft (V.5-8). All die Zeichen lassen sich mit bloßem Verstand nicht deuten (V.9).
Es bleibt unbegreiflich – und Maria allein am Grab stehen (V.11). Haben die beiden Jünger sie vergessen? Vielleicht braucht sie auch diese Zeit für sich und bleibt lieber allein. Sie weint – aus Trauer um den geliebten Menschen, aus Erschöpfung nach all den anstrengenden Tagen, aus Wut über all die Ungerechtigkeit in der Welt, die sie erleben mussten und die ihn das Leben gekostet hat, aus Hilflosigkeit, nichts ändern zu können? Maria steht draußen vor dem Grab und lässt ihren Tränen freien Lauf. Dann hat auch sie die Kraft und den Mut hineinzuschauen. Doch statt der Leinentücher nimmt sie zwei Engel in weißen Gewändern wahr (V.12). Sie sprechen sie an: „Frau, was weinst du?“ (V.13). Sie wird weinend gesehen, aber nicht für ihre Tränen abgelehnt oder belächelt. Gleich darauf ist da noch einer, der sie genauso anspricht: „Frau, was weinst du?“ Zum dritten Mal muss sie erzählen, fragen… Und mit jedem Wort, dass sie ausspricht, wird sie es für sie etwas wirklicher und sie handlungsfähiger: Aus „Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grab, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (V.2) wird „Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (V.13b), schließlich „… so sage mir: ‚Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen.“ (V.15) Sie will alles in ihrer Kraft Stehende tun, damit er gefunden und angemessen beerdigt wird. Die Zuneigung zu ihrem Herrn kennt keine Furcht und keine Schwäche.
Die Antwort aber verändert alles: Sie teilt ihr Leben noch einmal in ein „Davor“ und ein „Danach“. Der vermeintliche Gärtner (V.15) spricht nur ein Wort, sie mit ihrem Namen „Maria“ an. So wird er für sie als „Rabbuni“, als ihr Meister erkennbar (V.16). Kein „Fürchte dich nicht!“, kein „Weine doch nicht!“, kein „Ich bin’s doch“ oder „Ich war doch“ – nur ihr Name. Das genügt. Nur dieses eine Wort und die Beziehung ist da und ist doch nicht mehr dieselbe, denn: Sie darf ihn nicht vorsichtig anfassen, um zu spüren, es ist wirklich wahr. Sie wird nicht noch einmal in den Arm genommen. Ihr wird nicht noch einmal stärkend die Hand gedrückt oder aufmunternd auf die Schulter geklopft, um ihr die Kraft zu geben, dass sie den Auftrag erfüllen kann, den er ihr mitgibt. Aber es reicht! Von ihm bei ihrem Namen gerufen zu werden, reicht, um ihn zu erkennen, um von ihm getröstet und so gestärkt zu sein, um erneut/ zum dritten Mal an diesem ersten Tag aufzubrechen. Sie geht und verkündet den anderen: „Ich habe den Herrn gesehen.“ (V.18). Es ist viel zu früh voll zu verstehen, was es bedeutet. Nur eines ist klar: Mit dem ersten Tag der Woche beginnt für sie wirklich eine neue Zeit. Sein gemeinsamer Lebensweg mit ihr und mit den anderen Jüngern geht auf andere Weise weiter (V.16, vgl. 1,38). Eine neue Zeit und Wirklichkeit ist in ihr Leben hineingebrochen.