Bilder aus der Ukraine lösen Erinnerungen aus

Nachricht 12. April 2022

Senior*innen sprechen plötzlich über schlimme Erlebnisse aus Kindertagen

Foto: Leeroy Agency auf Pixabay

Senior*innen in Niedersachsen, die im Krieg oder in der Folgezeit selbst Schlimmes erlebt haben, suchen seit Beginn des Ukraine-Krieges immer häufiger das seelsorgliche Gespräch – das beobachtet die landeskirchliche Beauftragte für Altenseelsorge, Anita Christians-Albrecht. „Die Fernsehbilder aus der Ukraine lösen bei alten Menschen mit Kriegserinnerungen viel aus. Viele schlafen schlecht oder träumen wieder von schlimmen Erlebnissen aus Kindertagen“, sagte die Pastorin aus dem Zentrum für Seelsorge und Beratung jetzt dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Mehr Menschen als sonst möchten über solche Erlebnisse sprechen, einige zum ersten Mal in ihrem Leben.“ Kolleg*innen, die regelmäßig in Altenheimen arbeiten, würden diese Wahrnehmung bestätigen.

Auch am Telefon nehme sie den erhöhten Redebedarf wahr, erklärt Christians-Albrecht, die das Krisentelefon der christlichen Kirchen in Niedersachsen organisiert hatte. Sie und etwa 35 weitere Seelsorger*innen nahmen dabei bis Anfang April täglich bis zu 40 Anrufe entgegen. Viele Menschen hätten seit frühesten Kindertagen kaum über traumatisierende Erfahrungen wie nahe Bombenexplosionen, Fluchterlebnisse oder die Konfrontation mit Toten und Verletzten gesprochen: „Sie sind erstaunt, wie nahe ihnen die Bilder aus der Ukraine gehen und wie viele eigene Bilder ihnen wieder vor Augen sind“, sagt die Theologin

Schon 1991 während des Zweiten Golfkrieges habe sich gezeigt, dass gegenwärtige Konflikte alte Kriegserinnerungen, mitunter auch vergessen geglaubte Ängste und Traumata, wachrufen können. „Damals wandten sich viele Menschen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatten, an Psychotherapeut*innen“, erläutert Christians-Albrecht. Zunächst könne aber jede und jeder ein hilfreiches Gegenüber sein. „Hören Sie zu“, rät die Theologin. „Und zwar wertschätzend und so, dass Sie würdigen, dass es schlimm war, was das Gegenüber als Kind erlebt hat. Diese Würdigung ist oft der erste Schritt zur Heilung.“

Einem Menschen, der sich in eine beängstigende Situation zurückversetzt fühlt, könne alles helfen, was früher schon Stabilität gegeben habe: Wem der Glaube in Kindertagen eine Stütze war, für den könne er auch jetzt eine wichtige Ressource sein, betont Christians-Albrecht. „Vielen half es, wenn die Oma im Bombenkeller die Hand hielt. Das hören wir immer wieder.“ Angehörige könnten auch heute Halt geben, indem sie Nähe gewähren: „Zeigen Sie, dass sie da sind, mit Besuchen oder auch, indem Sie anrufen.“

Manchmal helfe es Betroffenen auch, aktiv zu werden. Viele empfänden es als befreiend, sich zu engagieren, sei es bei der Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften oder auch bei Friedensgebeten in der Kirchengemeinde. „Und natürlich ist es auch erlaubt, den Nachrichtenkonsum zu begrenzen und den Fernseher öfter ausgeschaltet zu lassen, wenn die Eindrücke zu sehr belasten.“

Urs Mundt, Evangelischer Pressedienst (epd), Landesdienst Niedersachsen-Bremen