Was ist das biografische Erbe der sogenannten Kriegsenkelgeneration, also der Menschen, die zwischen 1955 und 1975 geboren wurden? Welche Spuren hat es hinterlassen, dass die Eltern Nationalsozialismus, Krieg und Flucht erlebten und sich in den Nachkriegsjahren eine neue Existenz aufbauen mussten? Und welche Ressourcen wurden daraus entwickelt? Diesen Fragen ging der Thementag „Spurensuche“ im Hanns-Lilje-Haus in Hannover nach, der als Kooperation zwischen der Altenseelsorge im Zentrum für Seelsorge und Beratung und der EEB Niedersachsen angeboten wurde. Gefördert wurde die Veranstaltung durch die Hanns-Lilje-Stiftung.
Referentin Ingrid Meyer-Legrand, Autorin, Systemische Therapeutin und Supervisorin, betonte, dass gegenwärtig durch den Krieg in der Ukraine Erinnerungen und Traumatisierungen sowohl bei den Kriegskindern, als auch bei den Kriegsenkel:innen an die Oberfläche kommen. Viele finden ihre eigene Geschichte und ihre Familiengeschichte in den Bildern und Berichten über den Krieg wieder. Der Krieg in der Ukraine ist deshalb ein Anlass, sich damit auseinanderzusetzen und das Gespräch zu suchen, denn die Biografie der Kriegsenkel beginnt mit der Geschichte der Kriegskinder.
Rollentausch wird problematisch
So stellen Erlebnisse und Erfahrungen der Eltern, z.B. Angst, Schutzlosigkeit oder Hunger, den Resonanzraum für das Aufwachsen der Kriegsenkel dar. Daraus können Schuldgefühle entstehen mit Blick auf das, was die Jüngeren haben, daraus resultierend auch die Schwierigkeit, sich etwas zu gönnen und dies genießen zu können. Thematisiert wurde auch die Sprachlosigkeit der Eltern im Hinblick auf die eigene Geschichte, ihre Distanz und Gefühlskälte, die von den Kriegsenkel:innen meist als Hilflosigkeit wahrgenommen wird. Vielfach entwickelt sich aus dieser Situation ein Rollentausch: Kinder übernehmen die Rolle der Eltern und treten als Ersatzeltern, Gesprächspartner:innen und Tröster:innen auf. Problematisch ist dieser Rollentausch dann, wenn er nicht zeitlich begrenzt ist.
Kriegsenkel:innen möchten die eigenen Eltern entlasten oder sogar „retten“, indem sie durch gute Leistungen die Türen zur Welt öffnen. Hierin liegt oftmals der Grund für die Leistungsbezogenheit der Kriegsenkel, ihren Perfektionismus und ein nicht entwickeltes solides Selbstwertgefühl. Kriegsenkel zeichnen sich oft auch durch eine schnelle Auffassungsgabe für Stimmungen aus, durch große Empathie und eine ausgeprägte Sensibilität für die Bedürfnisse anderer.
Das "schwarze Loch" bleibt
Viele Kriegsenkel*innen fühlen sich von ihren Eltern nicht richtig gesehen, als individuelle Person, aber auch in ihrer familiären Rolle als Kind – auch das thematisierte der Thementag. Das hinterlässt, wie von etlichen Teilnehmenden geäußert, das Gefühl einer inneren Leerstelle, eines „schwarzen Loches“, das auch nach dem Ende der Kinderzeit bleibt.
Diese Auswirkungen des Aufwachsens als Kriegsenkel:in können laut Meyer-Legrand bearbeitet werden: Wichtig sei es, einerseits zu erkennen, dass die eigenen Eltern nicht anders handeln konnten, ohne deren Verhalten gut zu heißen, und sich dabei den eigenen Schmerz zuzugestehen, dass man als Person von den Eltern nicht gesehen wurde. Dazu lohnt es sich, das Gespräch zu suchen und miteinander zu reden. Andererseits sollte auch die eigene Rolle in der Familie reflektiert werden: Oft nehmen Kriegsenkel:innen in Beziehungen, im Beruf und auch in der eigenen Familie dieselbe Rolle ein wie in ihrer Herkunftsfamilie – und nicht selten leiden sie darunter.
Von den Eltern erlernte Ressource
Im zweiten Teil ihres Vortrags ging Meyer-Legrand auf die Fähigkeit der Kriegsenkel:innen ein, in eine offene, mobile Gesellschaft hineinzuwachsen, diese zu gestalten und sich dabei immer wieder neu zu erfinden. Auch diese Ressource bewertet Meyer-Legrand als von den Kriegskindern erlernte Fähigkeit der Kriegsenkel:innen: Die eigenen Eltern, die sich oft ohne Schulabschluss hocharbeiten und mit dem sozialen Wandel zurechtkommen mussten, gaben die Fähigkeit weiter, sich flexibel auf Veränderungen einzulassen. „Dies legt den Grundstein dafür, sich in einer mobilen Gesellschaft zurechtzufinden und sie zu gestalten“, so Meyer-Legrand.
Kriegsenkel:innen nehmen sich selbst ernst, verändern die Gesellschaft, entwickeln ganzheitliche Führungsstile und erleben eine große Freiheit, die gestaltet werden kann und auch muss – Ressourcen, die Meyer-Legrand als positiv bewertete. Dennoch stellte sie heraus, dass viele Kriegsenkel:innen diese Einschätzung nicht teilen: Sie beurteilen ihre Lebensbilanz als mager. Sie erleben ein Gefühl des Nichtdazugehörens, das in einem durch Bildung erlangten sozialen Status begründet ist, der zu einer Distanz zum Elternhaus führt. Hilfreich sei es in diesem Zusammenhang, so Meyer-Legrand, den dazugehörigen gesellschaftlichen Hintergrund zu erkennen, gleichzeitig aber auch auf Spurensuche zu gehen und persönlich zu reflektieren: Was kann ich? Was will ich? Woran knüpfe ich an, und was ist der rote Faden in meinem Leben?
Religiosität kann helfen
Wolfgang Winter, Pastoralpsychologe und Pastor i.R. aus Göttingen, fragte in seinem Impuls, inwieweit die persönliche Religiosität im Zusammenhang mit den Erfahrungen der Kriegsenkelgeneration förderlich oder hemmend sei. Er arbeitete heraus, dass Religiosität eine wichtige Ressource ist: Sie kann bei der Verarbeitung von Ängsten und dem Mangel an Geborgenheitsgefühl helfen und einen Raum bieten für bisher vermiedene Gefühle und Gedanken.