Die TelefonSeelsorge Deutschland erinnert jetzt daran, dass in den Frühjahrs- und frühen Sommermonaten das Suizidrisiko besonders hoch ist. Deshalb sollten an Depressionen erkrankte Menschen und Menschen in seelischen Notlagen jetzt besondere Aufmerksamkeit erfahren.
„Auch wenn die Suizidrate in Deutschland seit Jahren kontinuierlich sinkt – jeder Suizid ist einer zu viel“, sagt Peter Brockmann, Leiter der TelefonSeelsorge Bremen. „Wir wissen auch noch nicht, ob die Suizidzahlen sich durch die Pandemie sogar wieder erhöhen.“ Er verweist auf eine aktuelle Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, in der es heißt: „In Deutschland starben im Jahr 2020 deutlich mehr Menschen durch Suizid (9.206) als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und AIDS zusammen (ca. 6.950).“ Im Jahr 2020 gab es einen leichten Anstieg von 165 Suiziden gegenüber 2019. (Quelle: www.naspro.de/dl/Suizidzahlen2020.pdf)
Ausgerechnet im Frühsommer?
Die meisten Menschen verbinden das Aufblühen im Frühling und die Wärme des beginnenden Sommers mit Hochgefühl und gesteigerter Lebensfreude. So ist es für viele eine Überraschung, dass gerade dann die Suizidrate in die Höhe geht. Die Ursachen sind nicht endgültig geklärt, das Phänomen wurde aber schon im 19. Jahrhundert registriert.
„Selbstverständlich hat die TelefonSeelsorge das ganze Jahr über Kontakte zu Menschen mit Suizidgedanken oder -absichten“, erklärt Rosemarie Schettler. Sie leitet die Vor-Ort-Beratung bei der TelefonSeelsorge Duisburg und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Suizidprävention. „Dass jemand sich meldet, der unmittelbar vor der Umsetzung steht, ist allerdings eher selten. Unsere Anrufer:innen sind weit häufiger latent suizidal: einsam, psychisch krank, von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Ihnen machen wir ein Gesprächsangebot, das sie, so hoffen wir, im Leben hält: durch Zugewandtheit, Verständnis und vor allem den Verzicht auf billigen Trost. Stattdessen halten wir ihre Situation im Gespräch mit ihnen aus. Und das hilft tatsächlich vielen zumindest über die eine oder andere besonders dunkle Stunde hinweg.“
Hinschauen und zuhören
Das sei letztlich auch das, was sie Angehörigen oder dem befreundeten Umfeld rate, wenn diese sich um einen Mitmenschen sorgen, sagt Rosemarie Schettler. „Bloß nicht darüber hinweg trösten, sondern aktiv zuhören, nachfragen, Verständnisbereitschaft signalisieren. Und ja, man darf sich trauen, direkt zu fragen: Denkst du daran, dir das Leben zu nehmen? Oft erleichtert es die Angesprochenen, mit ihren Suizidgedanken nicht mehr allein zu sein. Und nur, wenn ich weiß, wie es um jemanden steht, kann ich mit der Person gemeinsam nach Auswegen suchen.“
Hilfe bei Suizidgedanken auch per App
Einen weiteren möglichen Ausweg hat die TelefonSeelsorge mit dem „KrisenKompass“ geschaffen, einer App, die erste Hilfe in suizidalen Krisen anbietet. Sie wendet sich an Menschen, die selbst suizidal sind, sich um Angehörige sorgen oder gar Angehörige durch Suizid verloren haben. Der KrisenKompass bietet ganz praktische Anlaufstellen für Notsituationen, zeigt, wie man sich selbst wieder erden kann und weist Wege zu eigenen Ressourcen und Kraftquellen. Es gibt ihn zum Download bei Google Play und im App Store.
Die Initiatoren, Dr. Stefan Schumacher und Bernd Wagener von den TelefonSeelsorge-Stellen Hagen-Mark und Siegen beschreiben das Ziel so: „Mit dem KrisenKompass reagieren wir auf die Bedürfnisse von Menschen, denen es schwerfällt, sich anderen zu öffnen. Sie finden hier Tipps und Hilfestellungen und werden ermutigt, sich Unterstützung zu holen und anzunehmen. In diesem Tool drückt sich die Philosophie der TelefonSeelsorge aus: Den Menschen dort zu begegnen, wo sie sind. Suizidprävention war immer unser Thema – die Wege, auf denen wir gefährdete Menschen zu erreichen versuchen, sind aber vielfältiger geworden.“
Vielfältige Erreichbarkeit
Neben dem Telefon und dem KrisenKompass gibt es auch die Online-Seelsorge per Mail und Chat: „Über diesen Weg erleben wir deutlich häufiger als am Telefon, dass Suizidalität klar geäußert wird“, so Rosemarie Schettler. „Am Telefon wird sie in rund sechs Prozent der Gespräche genannt, bei Chat und Mail sind es mehr als 30 Prozent. Das liegt sicher zum Teil daran, dass die Zielgruppen der Online-Seelsorge im Durchschnitt jünger sind und ihre Hemmschwelle geringer ist, an scheinbare Tabuthemen zu rühren. Es zeigt aber auch, dass wir alle verfügbaren Medien brauchen, um gefährdete Menschen zu erreichen.“