Über die Mauer der Schwerhörigkeit springen

Nachricht 22. April 2025

Ein Gespräch mit Pastorin Beate Gärtner

Pastorin Beate Gärtner

Die Ausgabe Nr. 34 der Zeitschrift „SeelsOHRge“ der Evangelischen Schwerhörigenseelsorge in Deutschland steht unter der Überschrift „Quando, quando, quando?“. „Es macht einen Unterschied, wann man schwerhörig geworden ist“, heißt es dazu im einleitenden Text. Redakteurin Antje Donker führte dazu ein Gespräch mit Pastorin Beate Gärtner vom Zentrum für Seelsorge und Beratung. Sie ist Beauftragte der hannoverschen Landeskirche für die Schwerhörigenseelsorge.

Antje Donker: Frau Gärtner, die Schwerhörigenseelsorge versucht immer, sachliche Themen mit Erfahrungswissen zu verbinden. Beide Arten von Kompetenz sind wichtig und gehören untrennbar zusammen ... Sie sind im Laufe Ihres Berufslebens schwerhörig geworden. Vielleicht mögen Sie uns erzählen, wie es dazu kam, und wie das Ihr Leben beeinflusst hat. Sie waren viele Jahre Gemeindepfarrerin und sind seit jetzt gut zwei Jahren mit der Seelsorge für Schwerhörige beauftragt.

Beate Gärtner: Gerne. Ich bin inzwischen etwas über 60 Jahre. Meine Schwerhörigkeit wurde im Alter von etwa 30 Jahren im Zuge einer dienstlichen Eingangsuntersuchung für die Verbeamtung festgestellt. Damals war es aber so minimal, dass der Ohrenarzt gesagt hat, es seien noch keine Hörgeräte notwendig. Dann kam im ersten Dienstjahr leider ein Dienstunfall dazu. Es gab eine Rückkopplung in einem Altarmikrofon und dabei wurde mein linkes Ohr ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Dann bekam ich auf diesem Ohr relativ bald ein Hörgerät, und die Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr schritt fort. Allerdings wurde festgestellt, dass das nicht nur auf den Dienstunfall zurück ging, sondern dass es auch mit einer Erkrankung zusammenhängt. Sie nennt sich Otosklerose.

Diese Erkrankung verschlimmerte sich zunächst auf dem linken Ohr. Danach griff sie auch auf das rechte Ohr über. Es war dann so, dass ich irgendwann auf beiden Ohren mittelgradig schwerhörig war und mit zunehmendem Fortschreiten die Schwerhörigkeit hochgradig wurde. Inzwischen ist es so, dass ich an Taubheit grenzend schwerhörig bin.

Wie hat die Schwerhörigkeit Ihr weiteres Leben beeinflusst? Familiär und beruflich?

Ich würde sagen, da ist das eingetreten, was bei sehr vielen Schwerhörigen eintritt: Es entstand eine ungute Wechselwirkung zwischen mir als Schwerhöriger und meiner nicht-schwerhörigen Umwelt. Ich habe meine Schwerhörigkeit so lange wie möglich verschwiegen, unterdrückt, überspielt. Ich werde jetzt mal einfach Beispiele nennen: Ich bin in einer Gesellschaft. Ich verstehe nicht, was da gerade gesprochen wird. Ich tue aber trotzdem so, als hätte ich verstanden, was gesagt wurde, indem ich einfach „Ja“ sage und hoffe, dass das Ja dann an dieser Stelle auch passt.

Oder ein anderes Beispiel: Es wird ein Witz erzählt. Ich habe nichts verstanden von diesem Witz, ich lache aber trotzdem mit. Ich würde sagen, diese Verhaltensweise habe ich lange Zeit, ich würde fast sagen über 20 Jahre, angewendet. Vor allem und gerade auch in Arbeitsbezügen habe ich das Hörproblem bestmöglich verborgen.

Also, wie soll meine Umwelt darauf reagieren, dass ich schwerhörig bin, wenn ich meiner Umwelt gar nicht mitteile, dass ich schwerhörig bin? Im familiären Kontext wusste die Umwelt das natürlich, aber letztendlich wurde es nicht so richtig ernst genommen. Im Großen und Ganzen funktionierte es ja irgendwie noch. Und manchmal wurde ich eben auch belächelt: „Mama, das hast du schon wieder nicht verstanden.“ Ich glaube aber auch, dass das verhältnismäßig normal ist, weil einfach niemand, der nicht selber schwerhörig ist, sich tatsächlich in die Lage dessen hineinversetzen kann, der schwerhörig ist.

Seit zwei Jahren bin ich jetzt Beauftragte für Schwerhörigenseelsorge in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. In dieser Zeit habe ich die Gelegenheit genutzt, meine Schwerhörigkeit auf einer anderen Ebene zu reflektieren, sowohl auf der kommunikativen Ebene, als auch auf der theologischen Ebene wie auf der praktischen Ebene.

Was hat sich durch diese Reflexion für Sie verändert?

Dieses Negativmodell, das ich vorhin beschrieben habe: Ich verberge meine Schwerhörigkeit, die Umwelt nimmt sie deswegen auch nicht wahr und kann darauf nicht reagieren – dieses Modell habe ich inzwischen vollkommen durchbrochen. Ich habe im Zuge der fortschreitenden Schwerhörigkeit festgestellt, dass meine Verbergungsstrategie immer weniger funktionierte. Es gab schwierige Situationen, wie z.B. in einem Trauergespräch. Die Trauernden hatten ohnehin schon leise gesprochen und ich hatte faktisch große Satzbrocken dieses Trauergesprächs nicht mehr verstehen können. Und es war so schlimm, dass mir der Angstschweiß einfach den Rücken runtergelaufen ist. Bei einer Beerdigungsansprache etwas Falsches zu sagen, weil man es nicht richtig verstanden hat, ist natürlich die absolute Katastrophe. Das hat bei mir massiven seelischen Stress ausgelöst.

Es gab dann noch verschiedene andere Bereiche im Gemeindekontext, wo ebenso klar war, dass es überhaupt nicht mehr geht mit dieser Versteckstrategie. Schon da hatte ich angefangen, den Verbergungsmechanismus zu durchbrechen und von meiner Schwerhörigkeit zu erzählen aber eher zurückhaltend und so, dass es bei dem Gegenüber nicht richtig angekommen war.

Nachdem ich meinen neuen Arbeitsbereich angetreten hatte, habe ich es mir bewusst zur Aufgabe gemacht, immer, in jedem Bezug, in den ich eintrete, konstruktiv und freundlich von meiner Schwerhörigkeit zu berichten und mein Gegenüber jeweils auch daran zu erinnern, wenn er oder sie das wieder vergessen hat. Für mich selber nutze ich alle Hilfsmittel, die mir zur Verfügung stehen: angefangen bei wirklich guten Hörgeräten, die meinen Bedürfnissen angepasst sind, auch gut eingestellten Hörgeräten, aber auch unter Verwendung von anderen Hilfsmitteln, wenn ich gemerkt habe, dass die Hörgeräte nicht ausreichen. Also, das sind zum Beispiel Hilfsmittel, wo ich eben meinen Gegenübern (wenn ich in größeren Gruppen bin) einfach mehrere Mikrofone in die Hände drücke und selbst ein entsprechendes Empfängersystem habe. Natürlich vergisst mein Gegenüber gelegentlich, ins Mikrofon zu sprechen – ich liebe dieses Vergessen, freue mich daran, es entstehen auch zum Teil einfach witzige Situationen.

Das ist im Grunde genommen die Erfahrung, die ich in den vergangenen zwei Jahren gemacht habe, dass die Leute ausgesprochen empathisch und aufgeschlossen sind und mitdenken. Ich kann nicht sagen, dass ich da in irgendeiner Weise Ablehnung erfahren hätte. Im Gegenteil: Wenn ich heute in ein Trauergespräch gehe und da sind viele Menschen im Raum (was in Ostfriesland häufig der Fall ist), dann nutze ich meine Schwerhörigkeit schon als Gesprächseröffnung. Dadurch lege ich meine Schwäche gleich am Anfang offen. Ich erlebe oft, dass die Leute mir dann sofort einen hohen Vertrauensvorschuss geben. Also das finde ich schon auch eine ganz erstaunliche Sache.

Und noch eine andere Situation: Als ich das erste Mal in einer großen Gruppe ausprobiert habe zu sagen „Wenn ihr jetzt hier irgendwelche Filme zeigen wollt, dann bitte mit Untertiteln“. Da wollte ich dann schon zur Kursleitung gehen und sagen: „Ihr denkt aber bitte daran, dass es ohne Untertitel bei mir nicht geht …“ – da kamen die schon irgendwie von selbst auf mich zu und sagten, dafür hätten sie schon gesorgt.“ Also sozusagen prophylaktisch, bevor ich es eingetragen habe, haben die mich schon mich mit ins Boot genommen.

Mir geht’s einfach so, dass ich diese positive Erfahrung gerne auch anderen Schwerhörigen mitgeben würde: Sich einfach zu trauen, aus dieser schamhaften „Ich-muss-es-unbedingt-verstecken-und-überspielen-Ecke“ rauszukommen. Und auch wegzukommen von diesem „Wenn-ich-mich-jetzt-oute-dann-ist-das-was-ganz-Schlimmes-und-alle-finden-mich- doof“.

Stattdessen wünsche ich mir, dass wir hinkommen zum „Ich-bin-mal-mutig-und-verstecke-mich-nicht“ und zum „Ich-oute-mich-und-ich-mache-das-freundlich“! Ich glaube, dass viele dann die Erfahrung machen können, dass das auf eine wirklich sehr positive Art und Weise wahrgenommen und zurückgegeben wird.

Und wie ich Sie erlebe, schadet auch eine ordentliche Portion Humor nicht ...

Genau. Ich glaube, es mit Humor zu nehmen, ist hilfreich. Und zwar mit einem Humor, der auch die andere oder den anderen nicht verletzt. Es kann befreiend wirken, wenn derjenige, der nicht im Sinne der Schwerhörigen gehandelt hat, mit mir darüber lachen kann. Humor kann dann diese Person mitnehmen.

Da fällt mir jetzt natürlich auch gleich noch eine andere Situation ein. Darüber habe ich auch geschrieben, weil ich das so witzig fand.1 Da war ich in einem Kloster und wir haben eine Achtsamkeitsübung gemacht im Klostergarten, auch in einer großen Gruppe. Der Leiter sagte: „Also, wir beschäftigen uns jetzt hier mit den fünf Sinnen, und wir fangen mit den Ohren an, weil das für alle das Einfachste ist.“ Da habe ich natürlich angefangen zu lachen. Die Gruppe wusste Bescheid, dass ich schwerhörig bin, und alle anderen dachten halt auch, dass das für mich eben überhaupt nicht das Einfachste ist, mit den Ohren anzufangen. Über diese Schiene hat es der Anleiter auch mitbekommen und konnte das dann entsprechend auf dieser humorvollen Ebene auch für sich selber noch mal neu verarbeiten.

Ich gebe gerne zu, dass das anstrengend ist und dass ich manchmal auch denke: „Mein Gott, ist das anstrengend!“ Aber diese Anstrengung lohnt sich; sie wird dadurch belohnt, dass zumindest ich die Erfahrung mache, dass die Leute mich mit meiner Schwerhörigkeit wahrnehmen, positiv annehmen und darauf so reagieren, dass ich im Großen und Ganzen Gesprächsabläufen folgen kann und das, obwohl ich an Taubheit grenzend schwerhörig bin.

Ich will zum Ende noch so ein bisschen theologisch werden. Eine nette Kollegin hat mir auf meinen Weg in den Dienst der Schwerhörigenseelsorge einen Satz mitgegeben, der mich begleitet: „Mit meinem Gott springe ich über Mauern.“ Ja, in Bezug auf die Schwerhörigkeit ist das für mich so wunderbar klar: Schwerhörigkeit ist eine Mauer, aber ich kann über diese Mauer rüberspringen, wenn ich Gott an meiner Seite weiß. Und er macht dann auch schon mal einen Steigbügel oder irgendwie sowas, und dann komme ich da auch schon rüber …

1 Ermunterungstext „Auf Sabbattagen“ vom 10. Mai 2024